Unter der Rubrik "Darwins Vorläufer und Mitstreiter" schreibt S. J. Gould (1982, p.61) in einem für eine breite Leserschaft bestimmten Artikel (ähnlich Wright 1982, p.1102, Günther 1967, p. 58, in speziellen Abhandlungen):
"Auch der Augustinerpater Johann Gregor Mendel (1822 bis 1884) gehört zu denen, deren Entdeckungen Darwins Theorie untermauerten. Nach dem damaligen Stand der Wissenschaft konnte Darwin die Mechanismen der Vererbung noch nicht erklären. Mendel kam ihnen durch seine systematischen Forschungen in der Pflanzenkreuzung auf die Spur."
Einschränkungen zum Verhältnis Darwin - Mendel werden nicht gemacht. Der Leser könnte auf den Gedanken einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen beiden kommen. Die Humangenetiker F. Vogel und A. G. Motulsky bemerken jedoch zur Frage nach der verzögerten Anerkennung der Mendelschen Regeln (1979, p.2, vgl. auch 1986 und 1997):
"A special problem that has not been answered satisfactorily in our opinion concerns the question of why Mendel's paradigm had to await acceptance for as long as 35 years after his experiments had been published. It would be too simplistic to blame academic arrogance and shortsightedness of contemporary biologists who did not want to accept the work of a "nonacademic" outsider, even if this factor might be one of the components for this neglect. We rather believe that the many new biologic discoveries in the 35 years following Mendel's discovery were of such a revolutionary nature as to qualify as a scientific crisis in the Kuhnian sense and therefore required a completely new approach."
Worin bestanden die revolutionären Entdeckungen, die den Durchbruch der Erkenntnisse Mendels um 35 Jahre verzögerten? Ein paar Zeilen weiter schreiben die Autoren über die Situation in der Biologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also der Zeit der 'Wiederentdeckung' der Mendelschen Befunde:
"Meanwhile, the biologic revolution of the nineteenth century - evolutionary theory - had been accepted by the scientific community."
Die Autoren stehen mit dieser Auffassung keineswegs allein da. Der international geachtete Genetiker H. Stubbe erwähnt ebenfalls, daß der Außenseiter Mendel von den offiziellen Repräsentanten der Botanik vielleicht nicht ganz ernst genommen wurde, meint dann aber (1963, p. 117):
"Viel entscheidender für das Schicksal der Arbeiten Mendels aber mag gewesen sein, daß sich 7 Jahre vor seiner ersten Veröffentlichung durch das Erscheinen von "The Origin of Species" (1859) von Charles Darwin (1809 - 1882) das Interesse der wissenschaftlichen Welt ganz dem Evolutionsproblem zuwandte, das von Darwin durch eine Fülle langjähriger eigener Beobachtungen und umfassender Literaturstudien unterbaut nun der Öffentlichkeit vorgelegt wurde."
"Die vier letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren erfüllt von Zustimmung und Ablehnung in Wissenschaft, Politik und Kirche zu Darwins revolutionären Theorien, und es ist wohl kein Zweifel, daß hierdurch manche Arbeitsrichtungen auf dem Gebiet der Biologie in den Hintergrund gedrängt oder ganz vergessen wurden."
Ernst Haeckel war der führende Vertreter der Darwinschen Evolutionstheorie in Deutschland. Stubbe betont, daß seine Kritik an Haeckels Einfluß lediglich dessen Thesen zur Vererbung betrifft (p.131, Fußnote) und schreibt u.a. (p.131):
"Haeckel stellte die Vererbung erworbener Eigenschaften als eine feststehende Tatsache der Vererbung ererbter Eigenschaften gegenüber, ohne dafür wirklich stichhaltige Beweise zu bringen. Ja, man kann die Beispiele über die Vererbung erworbener monströser Merkmale, wie etwa die von Haeckel zitierte Sechsfingrigkeit, geradezu als Beispiel für die kritiklose Deutung und Übernahme ungesicherter Tatsachen aus früheren Jahrhunderten ansehen."
Obwohl Stubbe der Auffassung ist, daß Haeckel "die Rolle von Kern und Plasma in der Zelle vielleicht als erster klar erkannt" hat, sagt er zusammenfassend (p.133):
"Immer wieder spielt in der Hypothese Haeckels die Vererbung der Anpassungen eine Rolle, die wir schon früher bei den von ihm entwickelten "Gesetzen" kennenlernten. Die ultimative Art, in der Haeckel die Vererbung erworbener Eigenschaften postulierte, hat sicher nicht dazu beigetragen, diese wichtige Grundfrage der Entwicklung und Vererbung sachlich und eindeutig zu klären."
Darwin selbst vertrat in diesen Fragen eine Auffassung, die die Molekulargenetiker G. S. Stent und R. Calendar folgendermaßen beurteilen (1978, p.7):
"Indeed, Darwin's "pangenesis" concept of the mechanisms of heredity, which envisaged that each part of the adult organism produces "gemmules", which are collected in the "seed" for transmission to the offspring, was more or less the same as that propounded by Hippocrates some twenty-three centuries earlier."
Wir nähern uns damit den "tieferen Ursachen" für die mangelnde Bereitschaft, die Entdeckungen Mendels zu akzeptieren. Denn man könnte sich ja im Gegensatz zu den tatsächlichen Ereignissen auch vorstellen, daß die für die Evolutionsfrage so entscheidenden Vererbungsgesetze - von der Welle des Darwinschen Evolutionismus emporgetragen - überall bekannt gemacht worden wären, statt darin unterzugehen.
I. Krumbiegel nimmt in seiner Biographie über Gregor Mendel denselben Standpunkt zur Frage nach der verzögerten Anerkennung der Vererbungsregeln ein, wie die oben zitierten Autoren. Er weist jedoch auch auf eine weitere Ursache hin (1967, p.60):
"Der mündliche Vortrag...in der Februar-Sitzung des Jahres 1865 krankte daran, daß die etwa 40 Zuhörer, unter denen allerdings wohl alle botanisch bestens beschlagenen Persönlichkeiten von Mendels Kollegenkreis anwesend waren, zunächst einmal ganz unter dem Eindruck der Darwinschen Theorien standen. In der vorangegangenen Sitzung hatte Makowski über die neue Darwinsche Theorie gesprochen, deren Grundidee die Variabilität der Arten war, während nun Mendel diesen bestechenden Dingen gegenüber ausgerechnet wieder vom Gegenteil, von Unveränderlichkeit sprach. "Fragen wurden nicht gestellt, eine Diskussion fand nicht statt", heißt es im Protokoll." (Hervorhebung im Schriftbild von mir.)
Der Genetiker W. J. Tinkle weist weiter darauf hin (1970, p.3):
"The minutes record also that later in the evening there was a discussion of..."The Origin of Species"."
Prof. F. Weiling (Bonn), der sich mit der Geschichte der Biologie, insbesondere mit der Geschichte des 'Mendelismus', Jahrzehnte intensiv beschäftigt hat, kommentiert das Interesse der Naturforscher an der Evolutionstheorie zur Zeit Mendels wie folgt (1976, pp.174/175):
"Die Aktualität der Theorie Darwins im damaligen deutschsprachigen Raum möge auch folgendes Beispiel illustrieren: In der Januar- Sitzung des Naturforschenden Vereins von Brünn 1865, die den Vorträgen J. G. Mendels über seine Pisum-Hybriden unmittelbar vorausging, trug der Geologe und Biologe Alexander Makowsky (1833 - 1908) überaus eindrucksvoll und nachhaltig über Darwins "Entstehung der Arten" vor, so daß nach Ansicht von H. Iltis die Vorträge Mendels dadurch an Gewicht einbüßten."
Hätten Mendels Ausführungen jedoch zu Darwins Theorie gepaßt, dann hätten sie dadurch hingegen an Gewicht gewinnen müssen! Der dänische Genetiker Wilhelm Johannsen, der die Begriffe "Phänotypus", "Gen", "genotypisch", "reine Linie", etc. geprägt hat und der für den Durchbruch zur allgemeinen Anerkennung der Mendelschen Regeln wesentlich mitverantwortlich ist, beurteilte die Situation folgendermaßen (ich zitiere aus dem klassischen Werk ELEMENTE DER EXAKTEN ERBLICHKEITSLEHRE 1909):
(p.4) "Was wohl am meisten die ruhige Entwicklung der Erblichkeitslehre gestört hat, ist der große Durchbruch in der Biologie mit dem Hervortreten Darwins...man versäumte im höchsten Grade das exakte Studium der Erblichkeitsfragen, um in mehr oder weniger spekulativer Weise sich dem Studium der Abstammungsprobleme zu widmen...(p.5)...die ganze Erblichkeitsforschung fiel deshalb einer Stagnation anheim...Die Auffassung, daß keine Stetigkeit der Typen, sondern fortwährende Verschiebung aller Grenzen die lebende Welt auszeichne, muß auch entmutigend gewirkt haben auf das Bestreben, exakte Erblichkeitsgesetze aufzufinden. Wie könnte man hier an feste Punkte denken, wenn "alles fließt" (vgl. auch p.117 )."
(p.165) "Diese Vorstellung (einer sukzessiven typenverschiebenden Wirkung der Selektion) sitzt eben auch deshalb recht fest, weil sie wenigstens in den letzten 40 Jahren eifrig in das Bewußtsein aller Jünger der Biologie geimpft worden ist. Die Vorstellung ist zum Glauben geworden, deshalb ist es ketzerisch, zu behaupten, sie sei ganz unsicher oder gar irrig" (vgl. auch pp.170, 306, 322, 327, 328, 357, 395).
(p.402) "Für die Vertreter der Lehre einer kontinuierlichen Typenverschiebung, wie sie besonders durch die biometrische Schule in System gesetzt worden ist, mußte die Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze im höchsten Grade mißliebig sein." (Hervorhebungen im Schriftbild von mir.)
Mit den beiden letzten Zitaten klingt auch schon die Reaktion darwinistischer Schulen auf die 'Wiederentdeckung' der Mendelschen Regeln an, worauf wir noch zurückkommen wollen. Zunächst sei das Urteil von de Vries, dem ersten 'Wiederentdecker' sowie Begründer der Mutationstheorie, zitiert. Er schreibt zwar etwas gemäßigter, sagt aber im Prinzip das gleiche (1901, p. III):
"Die Lehre von der Entstehung der Arten ist bis jetzt eine vergleichende Wissenschaft gewesen. Man glaubt allgemein, dass dieser wichtige Vorgang sich der directen Beobachtung und mindestens der experimentellen Behandlung entziehe. Diese Ueberzeugung hat ihren Grund in den herrschenden Vorstellungen über den Artbegriff und in der Meinung, dass die Arten von Pflanzen und Thieren ganz allmählich aus einander hervorgegangen seien. Man denkt sich diese Umwandlungen so langsam, dass ein Menschenleben nicht genügen würde, um die Bildung einer neuen Form zu sehen."
(1903, p.V:) "Mendels wichtige Untersuchungen waren unbekannt geblieben, wohl in Folge des Umstandes, dass weder Mendel selbst, noch seine Leser, sogar nicht die hervorragendsten Hybridologen jener Zeit, wie Focke, die Tragweite seiner Ergebnisse erkannten. Sie mussten den Anhängern der Selektionstheorie notwendiger Weise entgehen;..." (vgl. auch pp. 659 ff.).
(1906, p.283:) "Man nimmt jetzt allgemein an, Darwin's Hypothese, daß die natürliche Zuchtwahl das Mittel sei, durch welches neue Typen entstehen, setze die langsame Umformumg gewöhnlicher fluktuierender Abweichnungen vom Durchschnittstypus in spezifische Unterschiede voraus. (p.284:) Auf jeden Fall sind diejenigen Schriftsteller meiner Meinung nach im Irrtum gewesen, die infolge dieser engen Auslegung der Darwin'schen Gesichtspunkte experimentelle Untersuchungen über die Entstehung der Arten unterlassen haben. (p.421:) Der verbreitete Glaube, daß langsame und allmähliche, fast unsichtbare Veränderungen den Vorgang der Entwicklung im Tier- und Pflanzenreich zustande bringen, bot keine große Anregung zu experimenteller Untersuchung." (Hervorhebung im Schriftbild von mir.)
Jahn et al. stellen (1982, p. 440) fest, daß unter den Zoologen W. Bateson an die erste Stelle in einer Reihe mit den 'Wiederentdeckern' der Mendelschen Regeln gestellt werden müßte (vgl. auch Stubbe 1963, p.188, und die Diskussion by Orel 1996, p. 288, 298). "Zur Vererbungsforschung führte auch ihn die offene Frage des Darwinismus nach dem Modus der Variabilität und der Widerspruch zu Darwins Vorstellung von allmählichen, kontinuierlichen kleinen Variationen. Er sammelte Beispiele für diskontinuierliche "sprunghafte" Variationen, Material für die "Diskontinuität in der Entstehung der Arten" (Bateson 1894), indem er homologe Serien vergleichend-morphologisch studierte" (I. Jahn, p.440).
Hören wir einige Kommentare dieses Pioniers der Vererbungsforschung, Gedanken, die wir aus seinen verschiedenen Schriften seitenweise weiter ausführen könnten (von ihm stammt übrigens der Begriff "Genetik" und wichtige Termini wie "allelomorph" später zu "allele" abgekürzt, "homozygot" und "heterozygot" und andere). Er schreibt 1909/1914:
(pp.2/3:) "Mit dem Triumph des Evolutionsgedankens war der Wissensdurst bezüglich der Bedeutung des Artenunterschiedes fürs erste befriedigt. Die Entstehung der Arten erschien im Jahre 1859. Während des folgenden Jahrzehnts, solange nämlich die neuen Anschauungen noch untersucht wurden, setzten die Experimentalzüchter ihr Werk noch fort, aber noch vor dem Jahre 1870 hatten sie ihre Arbeit bereits so gut wie ganz aufgegeben.
In allem, was das Artproblem anbetrifft, zeichneten sich die nächsten dreißig Jahre durch völlige Apathie aus, wie sie für ein Zeitalter des Glaubens so charakteristisch ist. Die Evolution wurde der Exerzierplatz der Essayisten. Die Zahl der Naturforscher wuchs zwar um das Zehnfache, ihre Tätigkeit nahm aber eine andere Richtung. Darwins Schöpfung übertraf alles, was man bisher für möglich gehalten hatte, so sehr, daß man das, was man als einen langersehnten Anfang hätte begrüßen sollen, schon als das vollendete Werk ansah. Ich besinne mich noch darauf, daß mich einer meiner tüchtigsten Lehrer freundschaftlich warnte, die Zeit nicht mit dem Studium der Variation zu vergeuden, da "Darwin dieses Gebiet erschöpft hätte" (weitere Ausführungen pp. 5, 7, 291). (Hervorhebung im Schriftbild wieder von mir.)(p.314:) "Daß das Brünner Journal nur in verhältnismäßig wenigen Exemplaren erscheint, ist keine genügende Erklärung dafür, daß das Werk keine Beachtung fand. Ein derartiger Umstand hat selten die allgemeine Anerkennung lange hinausgeschoben. Der Grund liegt fraglos in der Vernachlässigung des experimentellen Studiums des Problems der Arten, welche eine Folgeerscheinung der allgemeinen Anerkennung von Darwins Theorien war."
Die 'andere Richtung', die die Tätigkeit der 'zehnfachen' Zahl der Naturforscher nahm, lag vor allem in der Aufgabe, Darwins Vorstellungen zur kontinuierlichen Evolution zu bestätigen.
Der Botaniker R. von Wettstein stimmt Bateson in der Frage nach der verzögerten Anerkennung der Vererbungsregeln im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Buches zu:
"Mehrere Umstände machen dies zum Teil verständlich. Die begeisterte Aufnahme und nahezu allgemeine Anerkennung, welche die Darwinsche Selektionstheorie um die Mitte des vorigen Jahrhunderts fand, ließ es vielen Biologen geradezu überflüssig erscheinen, die Voraussetzungen einer solchen deszendenz-theoretischen Lehre eingehender zu untersuchen; die morphologische Richtung der Biologie war durch die Anwendung der phylogenetischen Prinzipien auf die verschiedenen Gruppen der Organismenwelt vollauf in Anspruch genommen" (Hervorhebung im Schriftbild von mir). (Der Rest der Forscher war vor allem mit physiologischen Fragestellungen und der beginnenden Zytologie beschäftigt.)
Es ist also falsch, wenn der "true Darwinian" und spätere Mitbegründer der Synthetischen Evolutionstheorie Ernst Mayr (1982, p. 727), generell Darwins VARIATION (1868) zu den Werken rechnet, die "an accelerating interest in the problem of inheritance" schufen. Die große Mehrheit der Nachfolger Darwins glaubte vielmehr, daß mit Darwins Variationsstudien 'dieses Gebiet erschöpft' sei. Es waren in erster Linie die wissenschaftlichen Kritiker Darwins, die gegen den Strom ankämpften und trotz des 'darwinistischen Glaubens' an diesen Fragen weiterarbeiteten, - was übrigens veranschaulicht, wie außerordentlich wissenschaftlich fruchtbar eine kritische Geisteshaltung zu Darwins Ideen sein kann.
(Die Geschichte der Zytologie ist zum Teil unabhängig von Darwins Theorie verlaufen, denn sie reicht in die Zeit vor Darwins ORIGIN-Arbeit zurück - Hooke, von Baer, Virchow, Pasteur u.a.. Es ist jedoch auffällig, daß die drei letztgenannten später zu den Kritikern Darwins gehörten. Es wäre vielleicht eine besondere Aufgabe, herauszufinden, inwieweit nach 1859 eine kritische Haltung zu Darwins Ideen auch die Geschichte der Zytologie stimuliert hat; Oscar Hertwig und R. A. Kölliker jedenfalls waren ebenfalls Kritiker Darwins.)
Zu den wenigen Forschern, die Mendels Ergebnisse vor 1900 ausführlicher diskutierten, gehörte der Darwinkritiker H. Hoffmann (1869). Orel berichtet nach Hinweis auf einige kurze Zitate der Mendelschen Arbeit (1996, p. 276/277):
"More attention was paid to the Pisum paper by H. Hoffmann (1869) in his book on the determination of species and variety. He wished to refute Darwin's Theory of Evolution, not believing in the importance of variations as a basis for the formation of new species" (Hervorhebung im Schriftbild von mir).
Weiter ist Mayrs Auffassung unzutreffend, wenn er behauptet: "For reasons not at all clear, Mendel's age was not particularly interested in pure transmission genetics" (Mayr, 1982, p. 725). Die Gründe liegen in Darwins Evolutionstheorie und den damit verbundenen Vererbungsvorstellungen. Indirekt bestätigt Mayr meine Auffassung, wenn er weiter aufführt, an welchen Fragen man damals interessiert war: Vererbung wurde in Verbindung mit dem Artproblem, der Artbildung, der Vererbung erworbener Eigenschaften und weiteren Punkten gesehen. Nach Auffassung der Darwinisten waren die genannten Fragen jedoch von Darwin mit seiner Idee der kontinuierlichen Evolution und der Lamarckschen Auffassungen verwandten Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften bereits eindeutig beantwortet worden (siehe auch Haeckel).
"...Niessl (1903) stated that the reason for the underestimation of Mendel's work was connected with the 'spirit of the age at the time of its publication.' He adds: 'His work was well known, but ignored in the prejudice raised by the divergent and mutually exclusively views current at the time. From personal contact with Mendel of many years' standing I knew that he did not succumb to disappointment as a result of the fact that his botanical publications did not meet with immediate success at a time when for the explanation of the origin of new forms of plants the principles of the then generally acknowledged hypothesis of Darwin were almost exclusively decisive'" (Orel 1996, p. 275). (Hervorhebung im Schriftbild von mir.)
(Der Originaltext von Professor Niessl aus dem Jahre 1902/3 lautet: "Dass diese werthvollen Ergebnisse langwieriger und äusserst sorgfältiger Versuche nicht schon viel früher sorgfältige Beachtung fanden, war hauptsächlich im Geiste der Zeit ihres Erscheinens gelegen. Es ist jedoch nicht zutreffend, wenn man sagt, Mendel sei erst jetzt "entdeckt" worden. Man kannte seine Arbeiten wohl, aber man ging an ihnen vorüber, beherrscht von damals ausschliesslich massgebenden anderen Anschauungen. Aus dem vieljährigen persönlichen Verkehr mit Mendel weiss ich, dass dieser sich hinsichtlich des sofortigen Erfolges seiner botanischen Publikationen keinen Täuschungen hingegebn hat, zu einer Zeit, da für die Erklärung der Bildung neuer Pflanzenformen fast ausnahmslos die Grundsätze von Darwins damals allgemein anerkannten Hypothesen massgebend waren.")
Erwin Baur schreibt in seiner EINFÜHRUNG IN DIE EXPERIMENTELLE VERERBUNGSLEHRE (1911) in gleicher Weise wie die schon oben zitierten Pioniere der Genetik Johannsen, de Vries, Bateson und andere:
(p.1:) "Die Frage nach dem Ursprung der Arten hat jahrzehntelang im Brennpunkt des Interesses gestanden, aber trotzdem ist lange Zeit ganz merkwürdig wenig darüber experimentiert worden, und die Resultate der wenigen Forscher, die eine Ausnahme machten, wurden nicht beachtet. Paläontologie, vergleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte, Tier- und Pflanzengeographie haben zunächst fast ausschließlich das Tatsachenmaterial geliefert.
...Die Frage nach den Ursachen und nach der Art und Weise der Entstehung und Umbildung der Arten, die eigentlich vorher beantwortet sein müßte, ist darüber vernachlässigt worden. Für unsere Erkenntnis war das nicht gerade förderlich."
Mit anderen Worten hat man die Rechnung (die kontinuierliche Evolution) ohne den Wirt (die Genetik) gemacht.
H. Kappert bemerkt (1955, p.193) über die Grundlagen der Vererbungswissenschaft:
"Zwar waren die Grunderkenntnisse auf diesem neuen Gebiet schon im Jahre 1866 durch den Augustinermönch Gregor Mendel publiziert worden. Sie mußten aber, weil den Anschauungen seiner Zeit allzu entgegengesetzt, der Vergessenheit anheimfallen, da es Mendel nicht gelang, die von ihm nachgewiesenen Gesetzmäßigkeiten der Vererbungsvorgänge als über den Bereich von Rassenbastarden hinausgehend, nachzuweisen."
Kapperts Kommentar, daß die Grunderkenntnisse "den Anschauungen seiner Zeit allzu sehr entgegengesetzt" waren, ist sicher zutreffend, die weitere Begründung aber wenig wahrscheinlich. Der Schritt über die Rassenbastarde hinaus hat in den Diskussionen auch nach der 'Wiederentdeckung' der Gesetze zunächst nicht die entscheidende Rolle gespielt.
Zu den Gesetzen der Individualität und Spaltung stellt Kappert fest (p. 195):
"Beide Gesetze paßten nun keineswegs zu dem, was man sich damals an Vorstellungen über die Vererbung machte. Bastardierung galt als Blutmischung und die Komponenten einer Flüssigkeitsmischung lassen sich nicht wieder rein trennen. Eine Individualität der Erbanlagen mußte daher als etwas Fernliegendes erscheinen und selbstverständlich ebenso die saubere Spaltung der Anlagen."
Die falschen Vorstellungen zur Vererbung gehörten seinerzeit zu den Fundamenten der Darwinschen Evolutionstheorie und wurden, wie oben zitiert, von Darwin mit seiner Pangenesistheorie noch weiter zu begründen versucht. R. Riedl kommentiert (1982, p. 366):
"Die folgenden Darwinisten schämen sich dieses linkischen, um nicht zu sagen dilettantischen Versuchs Darwins (Hemleben 1968, p.122)."
Selbst der neodarwinistisch orientierte Botaniker und Genetiker G. L. Stebbins urteilt (1977, p.14): "Darwin's theory of pangenesis was an unfortunate anomaly." Nägeli hatte bereits 1884 eingewendet, daß die Zahl der Zellen eines Lindenbaums auf etwa 2000 Billionen zu berechnen sei. "Soll bei der Vererbung aus jeder Zelle nur ein einziges Keimchen in ein Pollenkorn eintreten, so würden sie nicht entfernt Platz darin finden können, so daß jene Hypothese schon dadurch absurd erscheint" (zitiert nach Richter 1941, p. 154).
Johannsen analysiert Darwins Pangenesishypothese wie folgt (1913 und 1926, pp. 146-149, auszugsweise):
"Seit den Anfängen unserer wissenschaftlichen Kultur und bis auf DARWIN - inklusive - hat man meistens das Wesen der Vererbung als einen Übertragungsvorgang (Transmission) aufgefaßt.
...Im Altertum fanden sich verschiedene Generationshypothesen vor. Wir werden hier nur die Ideen HIPPOKRATES' anführen, wie sie im Buche über "Luft, Wasser und Wohnung" präzisiert worden sind. Es heißt dort u. a.: "Der Samen geht von dem gesamten Körper aus, gesunder von gesunden Teilen, krankhafter von krankhaften Teilen. Wenn nun von Kahlköpfigen Kahlköpfige, von Blauäugigen Blauäugige, von Schielenden Schielende in der Regel gezeugt werden...was hindert da, daß von Langköpfigen Langköpfige gezeugt werden?" Also: die persönlichen Eigenschaften als solche müßten demnach die Beschaffenheit des "Samens" (weiblichen sowie männlichen) beinflussen und solcherart die Beschaffenheit der Kinder mitbestimmen. Diese Auffassung ist die herkömmliche; daß Aristoteles dagegen polemisierte, hat merkwürdigerweise kaum irgendeinen Einfluß gehabt; seine Kritik, klar und schlagend wie sie war, ist erfolglos geblieben.
In seinem großen Werke von 1868, "Animals and Plants under Domestication" stellt Darwin seine "provisorische Pangenesishypothese" auf, und diese Hypothese fällt fast genau mit HIPPOKRATES' Aussprachen zusammen. DARWIN nimmt an, daß alle Teile des Körpers Keimchen (gemmules) produzieren, die u.a. durch die Blutbahnen - hier hat man eine Modernisation - bis zu den Reproduktionsorganen geführt werden, wo sie in den Geschlechtszellen vereinigt als "Anlagen" eines neuen Organismus auftreten.
Wenn nun auch DARWIN selbst seine Hypothese als unvollkommen bezeichnet hat, so kann man offenbar durch den ganzen seiner Hypothese zugrunde liegenden Gedankengang mit aller Schärfe behaupten, daß auch DARWIN in altherkömmlicher Weise die Vererbung als einen regelmäßigen Übertragungsvorgang, als eine Transmission der realisierten persönlichen Eigenschaften aufgefaßt hat. Sagte er ja selbst, im ersten Kapitel seiner "Origin of Species" - noch in der letzten Ausgabe - folgendes: "Wenn sonderbare und seltene Abweichungen im Bau wirklich vererbt werden (was DARWIN vorher durch Beispiele illustriert), dürfen weniger sonderbare und häufigere Abweichungen ohne weiteres ('freely') als erblich angesehen werden. Vielleicht wäre die richtige Art, die ganze Frage aufzufassen, die Anschauung, daß Vererbung eines jeden beliebigen Charakters Regel ist, Nichtvererbung aber die Ausnahme ('anomaly')". Bei den endlosen Diskussionen über DARWINS verschiedene Meinungen ist es gut, diesen festen Anhaltspunkt zu haben!...Die persönliche Beschaffenheit, also die realisierten Charaktere des Zeugers, bzw. der beiden Zeuger, erhielt demnach eine fundamentale Bedeutung bei den Erblichkeitserscheinungen. Die realisierten Charaktere sollten als die Grundlage der ganzen Forschung dienen; und der zahlenmäßige Ausdruck der Ähnlichkeit als Funktion der genealogischen Verwandtschaft wurde die Hauptsache der statistisch (b)etriebenen Erblichkeitsforschung" (Fett von Johannsen gesperrt, kursiv von mir).
(Siehe weiter Jahn 1982, pp. 428-430, Desmond and Moore 1992, pp. 531, 550, 616, 632.) Mit seiner Pangenesis-Idee erklärte Darwin auch, warum sich Ehepaare mit der Zeit immer ähnlicher werden; denn in einer langjährigen Ehe kommt da natürlich einiges an "gemmules" zusammen!
Im scharfen Gegensatz zu Darwin lehnte Mendel die Vererbung erworbener Eigenschaften aufgrund eigener langjähriger Versuche mit Ficaria ranunculoides und F. calthaefolia ab. Der Getreidezüchter Proskowetz (1902) "mentions experiments with the translation of Ficaria, in which Mendel tested Lamarck's theory of the effect of the environment on the inheritance of traits. In a talk on these experiments Mendel is said to have uttered the words, later much quoted, "This much I already know, that in this way Nature does not introduce anything more in the formation of species; there must be something else involved'" (Orel 1996, p. 275, vgl. weiter Richter 1941, 153-158 und 168 und das Zitat Flad-Schnorrenberg, p. 26 oben in der ausgedruckten Version).
E. von Tschermak-Seysenegg, der im allgemeinen zu 'Wiederentdeckern'3 der Mendelschen Regeln gerechnet wird, berichtet über Mendel im Kontrast zum Darwinismus (1951, p. 163):
"With patient work Mendel created the solid empirical basis of an exact science of heredity, which does not follow brilliant hypotheses, but necessitates rational experimentation. He did this at a time when the majority of botanists and zoologists had succumbed to the temptation of finishing prematurely the speculative structure of plant and animal heredity, the "dangerous" testing of which followed much later. In view of these circumstances, it is not surprising that Mendel's program, ahead of its time, even modern today, remained at first but poorly understood, his example unfollowed."
C. D. Darlington bemerkt in Übereinstimmung mit den meisten oben zitierten Autoren (1962, p. 80):
"Um 1860 stellte gerade das helle Licht der Evolutionstheorie, in dem man alles ausschließlich betrachtete, die gesamten Gedanken über Vererbung - auch die Mendels - in den Schatten: noch in den siebziger Jahren erging es ihnen, abgesehen von Galtons Ansichten, nicht besser. Und wie Johannsen sich 1922 ausdrückte, war es ein sehr tiefer Schatten."
Man darf wohl fragen, wieso "das helle Licht der Evolutionstheorie" "die gesamten Gedanken über Vererbung" in den Schatten stellte, statt sie "anzustrahlen" und zu erleuchten! Warum sind dann nicht auch Darwins und Galtons Gedanken über Vererbung vom hellen Licht der Evolutionstheorie in den Schatten gestellt worden? Wie kann überhaupt ein helles Licht etwas in den Schatten stellen - wenn nicht ein entsprechender Gegenstand dazwischen steht? Welcher 'Gegenstand' dazwischen stand, ist jedoch inzwischen klar: Der 'Gegenstand' mit seinem "tiefen Schatten" war Darwins Theorie der kontinuierlichen Evolution selbst - im Zusammenhang mit der Vererbung erworbener Eigenschaften samt Pangenesis-Hypothese.
Die von Mendel entdeckten Vererbungsgesetze standen auch im klaren Widerspruch zu Nägelis Vorstellungen zur Vererbung und Evolution, der sie genau deswegen nicht akkzeptierte. Ich stimme Mayr in der Berurteilung zu, wenn er (1982, p. 723) schreibt: "To accept Mendel's theory would have meant, for Nägeli, a complete refutation of his own."
Und das trifft genauso auf die Darwinisten des 19. Jahrhunderts zu!
Zu den Gründen für "die Jahrzehnte des Schweigens" nach Mendels Publikation zählt B. Flad-Schnorrenberg (1978, pp. 131/133) zunächst die in den meisten Arbeiten erwähnten Punkte auf (Mendel als Außenseiter, Abgeschiedenheit im Kloster, Stil der Arbeit, Mendels Bescheidenheit, Chromosomen noch nicht entdeckt etc. - ähnlich Sander 1988) und fährt dann fort:
"Die andere (Seite) ist in einer geistesgeschichtlichen Entwicklung in diesen Jahrzehnten zu suchen.
Wie wir gesehen hatten, riefen die Arbeiten Darwins eine sehr starke Reaktion hervor....In der Diskussion um die Evolution, um die Variabilität der Erscheinungsformen, konnte die Bedeutung der Stabilität des Erbgutes kaum ermessen werden. Wenn auch die Überlegungen um das Wesen der Vererbubg eine große Rolle spielten, so interessierte die Frage nach der Konstanz im Bereich des Lebenden noch nicht" (Hervorhebung im Schriftbild von mir).
H. Nilsson, der seit etwa 1912 bis in die fünfziger Jahre hinein die aufblühende Genetik mitgestaltet hat, bemerkt (1953, pp. 737/738):
"Im Jahre 1865 wurde eine... e x a k t e B i o l o g i e von MENDEL fest und überzeugend gegründet. Darüber ging aber die gewaltige Welle des Evolutionismus...Schon MENDEL begründete diese Forschungsrichtung (den Mendelismus) als eine Atomtheorie der Biologie. An der Konstanz seiner "differierenden Merkmale", der Gene, zweifelte er nicht. Als NÄGELI, wenig überzeugt, ihn fragte, ob man wirklich die rezessiven Nachkommen eines Bastards als konstant betrachten könne, antwortete er (CORRENS 1905: MENDELS Briefe an NÄGELI, p. 201): "Der Entwicklungsgang besteht einfach darin, dass in jeder Generation unmittelbar aus der Hybridform die beiden Stamm-Merkmale getrennt und ungeändert hervorgehen, und nichts verrät an ihnen, dass eines von dem anderen etwas geerbt oder mitgenommen hätte.". Er hebt hervor, dass er als Empiriker "unter Constantbleiben nichts anderes verstehen konnte als das Beibehalten der Charaktere während der Beobachtungszeit". Er referierte auch die Breite der Konstanzversuche in der dritten Generation, das Verfolgen einzelner Pflanzen bis zu der fünften und auch das Züchten einer tetrahybriden Pflanze in grossem Masstabe als Gemüsesorte durch sechs Generationen. Nach diesen experimentellen Belegen fasst er seine Meinung zur Konstanzfrage so zusammen, dass er "die Trennung der Stamm-Merkmale, wo sie unter den Nachkommen der Hybriden erfolgt, für eine vollständige und deshalb auch nachhaltige anzusehen" geneigt sei....Mit dem rediviven Mendelismus zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde zuerst der Konstanzgedanke das Fundament für die Vererbungs- und Artbildungsforschung..." ("exakte Biologie" von Nilsson gesperrt, sonst Hervorhebung im Schriftbild von mir).
Guiseppe Sermonti, lange Jahre Professor für Genetik an der Universität von Perugia, kommentiert in ähnlicher Weise diese Frage wie folgt (2005, p. 46):
"What really happened was that Mendel ruled out almost all the forces that Darwin had invoked to explain evolution. For Darwin, heredity was the result of a mixing of seminal fluids... Mendelian heredity consists in a recombination of traits that associate with each other but do not blend, with the result that a variant trait always has a chance of reemerging. Darwin's mixture theory... was a necessary corollary to his conviction that the environment acted directly on the germinal fluids inside the body... Mendel's hereditary determinants were not amenable to such influences and transmissions. They were static, permanent, and fully indifferent to the environment. In some quarters their stability was considered reactionary - clerical even, given that they came from the garden of an abbot" (bold von mir).
Mit den oben zitierten Biologen nenne ich als Hauptgrund für die Jahrzehnte des Schweigens die vom Darwinismus geprägte geistesgeschichtliche Entwicklung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit welcher der Konstanzgedanke Mendels absolut nicht konform ging. "In his short treatise EXPERIMENTS IN PLANT HYBRIDIZATION mentioned above Mendel incessantly speaks of "constant characters", "constant offspring", "constant combinations", "constant forms", "constant law", "a constant species" etc. (in such combinations the adjective "constant" occurs altogether 67 times in the German original paper). He was convinced that the laws of heredity he had discovered corroborated Gärtner's conclusion "that species are fixed with limits beyond which they cannot change"" (vgl. die engl. Zusammenfassung oben). Alle anderen Punkte haben dagegen nur untergeordnete Bedeutung. Wenn Mendels Entdeckungen zur geistesgeschichtlichen Entwicklung gepaßt oder sie gar verstärkt hätte, dann wären sie auch von zahlreichen Gelehrten aufgegriffen und akzeptiert worden, und seine Befunde hätten statt der Jahrzehnte des Schweigens Jahrzehnte der Anerkennung und des Beifalls erfahren.
Wenn heute die wissenschaftliche Welt die Antwort auf eine Frage sucht und ein 'Außenseiter' sagt genau das, was seine Zeitgenossen hören möchten, dann hat er ebenfalls die besten Chancen, gehört, verstanden und akzeptiert zu werden. Als Beispiel aus neuerer Zeit denke ich da an I. Rechenbergs 'Evolutionsstrategie', die in zahlreichen evolutionistischen Abhandlungen positiv referiert worden ist und auch schon wiederholt einem Millionenpublikum im Fernsehen vermittelt wurde. Rechenberg kommt aus den Ingenieur- Wissenschaften. Dabei muß noch beachtet werden, daß die Suche nach den Gesetzmäßigkeiten der Vererbung zur Zeit Mendels einen wesentlich höheren Stellenwert hatte als etwa Rechenbergs Evolutionsstrategie, die in der Biologie als Tatsache schon vorausgesetzt wird (zu Details und Kritik zu Rechenbergs Auffassungen vgl. meine Augenschrift 1989, pp. 61/62). Aber wie die Geschichte zeigt, hat auch ein Jesuitenpater wie Teilhard de Chardin die besten Aussichten, weltweit gehört zu werden, wenn seine Hypothesen nur in die geistesgeschichtliche Entwicklung der Zeit passen.
Daß die heutige Geschichtsschreibung hingegen die oben aufgeführten untergeordneten Punkte für die Jahrzehnte des Schweigens nach Mendels Publikation hervorhebt, ja zu den Hauptpunkten selbst macht, und dabei die entscheidende Frage oft gar nicht erwähnt, zeigt meiner Meinung nach die Problematik der Mendelschen Entdeckungen für das evolutionistische Weltbild bis auf den heutigen Tag.
Mancher Punkt ließe sich in diesem Zusammenhang noch weiter dokumentieren. Die Frage "was geschehen wäre, wenn Darwin Mendel und seine Arbeiten gekannt hätte?", die Darlington (1959, zitiert nach Stubbe) dahingehend beantwortet, daß Darwin, der die Bastardierungsarbeiten von Naudin nicht korrekt beurteilt hat, auch Mendels Arbeit nicht verstanden hätte, läßt sich wohl nicht endgültig entscheiden (Stubbe 1963, p.118). Aber selbst Mayr stimmt Darlington zu, wenn er (1982, p. 725) feststellt:
"There has been much speculation as to what effect Mendel's paper would have had on Darwin had he read it. I agree with those who think it would have had little influence if any. It took many years (after 1900) before the "true Darwinians", as they liked to call themselves, understood that gradual evolution and continous variation could be explained in Mendelian terms. Darwin, presumably, would have had the same difficulty."
Zu den "wahren Darwinisten" mit ihren Schwierigkeiten, die Mendelschen Befunde für ihr Fachgebiet zu akzeptieren, gehörte bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts Mayr selbst (Mayr, 1982, p. 554). Damit möchten wir auf die Frage zurückkommen, wie die gut dokumentierte, von mehreren Forschern unabhängig voneinander gemachte 'Wiederentdeckung' der Vererbungsgesetze von den darwinistischen Biologen aufgenommen wurde.