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DIE REAKTION DES DARWINISMUS AUF DIE 'WIEDERENTDECKUNG' DER MENDELSCHEN BEFUNDE

Jahn spricht (1982, p.469) von der "harten Konfrontation" zwischen 'Mendelisten' und Darwinisten, Eckhardt (1979, p.150) von einer "highly polemical period". Die Zoologen Weldon und Poulton und der Mathematiker Pearson, Begründer der englischen Biometriker-Schule, machten klar Front gegen Bateson. J. P. Regelmann kommentiert (1980, p.194):

Pearson "verstand sich in einer streng darwinistischen Tradition; und der Umstand, daß er wissenschaftliche Differenzen auch zum Anlaß persönlicher Feindschaft nahm, konnte vor diesem Hintergrund nur die Entwicklung der Genetik in England behindern." (Hervorhebung im Schriftbild von mir.)

Regelmann bemerkt weiter, daß das genauso auf Weldon zutraf und verweist auf das Resultat der Studien Nortons (1973, 1975), daß Pearson die Entwicklung der Genetik in England stark negativ beeinflußt hat. Wie nachhaltig dieser Einfluß war, zeigt die Geschichte der Weinbergschen Entdeckungen, insbesondere des Hardy-Weinberg Gesetzes.

Weinberg "... konnte die Behauptungen von Pearson (1903) und Yule (1906) widerlegen, daß die Mendelschen Vererbungsregeln mit den in menschlichen Populationen beobachteten Verhältnissen unvereinbar seien (Weinberg 1909); da Weinberg außerdem das Gleichgewichtsprinzip ausdehnte und auch für multiple Allele und mehrere Loci errechnete, mußte er die Auffassung Pearsons (1904) dahin berichtigen, daß in solchen Fällen das Gleichgewicht keineswegs in einer einzigen Generation erreicht wird. Dadurch geriet er mit Pearson in heftige Kontroversen und bei den englischen Biometrikern in Mißkredit, so daß seine mathematische Beweisführung in der zeitgenössischen Literatur ignoriert wurde und keinen direkten Einfluß auf die spätere theoretische Begründung der Populationsgenetik hatte" (Jahn 1982, p.471).

Pearson diskreditierte Weinbergs Entdeckungen folgendermaßen (1910, p. 381; zitiert nach I. Johansson 1980):

"A curiously ignorant account of the biometric treatment of heredity has recently been given by Weinberg...It hardly seems needful to reply to criticisms of this character."

Das Hardy-Weinberg-Gesetz, das heute als "der realistische Folgesatz von Mendels Spaltungsgesetz" (Senglaub 1982, p. 573) akzeptiert ist, wurde erst 1937 von Dobzhansky und 1943 von Stern "popularisiert" (Einzelheiten bei den zitierten Autoren; vgl auch I. Johansson 1980, pp. 185 - 188.)

C. Stern hebt hervor (1962, p.5):

"Weinberg's fate bears comparison to that of Mendel. Both men made their discoveries at a time when their contemporaries were unable to appreciate them." (Hervorhebung im Schriftbild von mir.)

Aber warum konnten die Zeitgenossen Mendels und Weinbergs Entdeckungen nicht adäquat beurteilen? Für Mendel haben wir die Antwort oben schon gehört. Was ist nun zum Fall Weinberg zu sagen? - Nach Hinweis, daß Mendels Zurückgezogenheit zur Nichtanerkennung beigetragen haben mag, sagt Stern über Weinberg:

"He attended congresses and his publications appeared in the leading periodicals. Indeed his work on ascertainment was always given credit. And yet, his most significant discoveries, those on population genetics, were overlooked and had to be made again by others. Perhaps, this is somewhat understandable when it is realized that Weinberg himself whose attention was focused on human genetics did not emphasize the universal significance of his work. Now we can see that Weinberg was one of the foremost creators and pioneers in the genetics of the twentieth century."

Man fragt sich, warum nach Stern bei Mendel die Zurückgezogenheit eine besondere Rolle bei der Nichtanerkennung gespielt haben sollte, wenn das doch auf Weinberg nachweislich nicht zutrifft. Was die Zeitschrift anlangt, in der Mendel seine Ergebnisse publizierte, ist es zwar richtig, daß sie nicht zu den "leading periodicals" gehörte, aber es darf auch nicht übersehen werden, daß "die Brünner Gesellschaft ihre Veröffentlichungen mit den meisten europäischen Hochschulen, auch mit der Royal und der Linnean Society austauschte" (Bateson 1909/1914, p. 316). "The Verhandlungen of the Brünn Society were sent to the libraries of 115 or more institutions including the Royal Society and the Linnean Society in Great Britains. Mendel had forty reprints made of his paper, and we know that he sent them, presumably among others, to two famous botanists: A. Kerner von Marilaun at Innsbruck...and Nägeli..." (Mayr 1982, p. 723). Nach Zirkle (1964, p. 66) sind die Verhandlungen sogar an 120 Bibliotheken gesandt worden.

Fest steht jedenfalls, daß die streng darwinistische Schule Pearsons die Mendelschen Regeln und alle daraus resultierenden Ergebnisse und Ableitungen mit großer Polemik ablehnte, denn wie auch I. Johansson (1980, p. 185) hervorhebt, folgte Pearson "der Auffassung Darwins, daß die natürliche Auslese hauptsächlich durch kleine Verschiedenheiten zwischen den Individuen wirkte...", - Verschiedenheiten, die wir heute als Modifikationen bezeichnen und die definitionsgemäß nicht erblich sind.

Weinbergs Entdeckungen sind also zunächst ebenfalls an der Dogmatik des Darwinismus gescheitert.

Die folgenden Kommentare führender Biologen zu den Mendelschen Regeln aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts möchten die Konfliktsituation weiter verdeutlichen (zitiert nach Nelson 1927/1965, pp.106/107):

"The data of Mendelism embarras us very considerably" (Caullery). "Interesting and profoundly important as are the results of Mendelian investigation, it must be admitted that they have rendered but little assistance in making the evolution process more intelligent, but instead of removing difficulties have rather increased them" (Scott).

A. R. Wallace, Mitbegründer der Selektionstheorie, bemerkt (1909/1916, p. 340; vgl. Bird 1989):

"But on the general relation of Mendelism to Evolution I have come to a very definite conclusion. This is that it has no relation whatever to the evolution of species of higher groups, but is really antagonistic to such evolution."

Mehr aus der Sicht der Mendelschen Schule in England beurteilte E. W. McBride die Situation (1925) (die folgenden Zitate wieder nach Nelson) :

"I well remember the enthusiasm with which the Mendelian theory was received when it was first introduced to the scientific world in the early days of this century. We thought at last the key to evolution had been discovered. But as our knowledge of the facts grew, the difficulty of using Mendelian phenomena to explain evolution became apparent, and this early hope sickened and died. The way that Mendel cut was seen to lead into a cul-de-sac (blind alley)."

Caullery hat 1916 den tieferen Grund für die Antipathie der darwinistischen Schulen gegen die Mendelschen Regeln noch schärfer akzentuiert:

"It comes to pass that some biologists of the greatest authority in the study of Mendelian principles of heredity are led to the expression of ideas which would almost take us back to creationism."

Mendel selbst hat sich in seiner grundlegenden Arbeit VERSUCHE ÜBER PFLANZEN-HYBRIDEN zur Frage nach Stabilität der Species geäußert. Er begründete seine Methodik (1866, p.4) folgendermaßen: "...indessen scheint es der einzig richtige Weg zu sein, auf dem endlich die Lösung einer Frage erreicht werden kann, welche für die Entwicklungsgeschichte der organischen Formen von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist." Und auf den Seiten 46 und 47 finden wir ein eindeutiges, wenn auch vorsichtiges Bekenntnis in starker Annäherung an die Auffassungen Gärtners, "dass der Species feste Grenzen gesteckt sind":

"Durch den Erfolg der Umwandlungs- Versuche wurde Gärtner bewogen, sich gegen die Meinung derjenigen Naturforscher zu kehren, welche die Stabilität der Pflanzenspecies bestreiten und eine stäte Fortbildung der Gewächsarten annehmen. Er sieht in der vollendeten Umwandlung einer Art in die andere den unzweideutigen Beweis, dass der Species feste Grenzen gesteckt sind, über welche hinaus sie sich nicht zu ändern vermag. Wenn auch dieser Ansicht eine bedingungslose Geltung nicht zuerkannt werden kann, so findet sich doch anderseits in den von Gärtner angestellten Versuchen eine beachtenswerthe Bestätigung der früher über die Veränderlichkeit der Culturpflanzen ausgesprochenen Vermuthung.

Unter den Versuchsarten kommen cultivierte Gewächse vor, wie Aquilegia atropurpurea und canadensis, Dianthus Caryophyllus, chinenensis und japonicus, Nicotiana rustica und paniculata, und auch diese hatten nach einer 4- bis 5maligen hybriden Verbindung nichts von ihrer Selbstständigkeit verloren" (Hervorhebung im Schriftbild von mir).

Es klingt zunächst etwas widersprüchlich, wenn Gärtner "durch den Erfolg der Umwandlungs- Versuche" sich gegen die Evolutionstheorie ausspricht. Er zog den Schluß jedoch aus der Regelmäßigkeit und Begrenztheit der Veränderungsmöglichkeiten.

Mendel hat sich mit diesem Bekenntnis zu Gärtners Auffassungen klar zur Schöpfungslehre bekannt. Denn genau das war Gärtners Anliegen. Wie einleitend schon erwähnt, habe ich den vorliegenden Text zum Teil 1982 zusammengestellt und die Hauptpunkte 1982, 1986 und 1995 veröffentlicht. Inzwischen sind weitere Forscher wie Callender (1988) und Bishop (1996) zu demselben Ergebnis gekommen. Callender kommentiert Mendels Hinweis auf Gärtner (1988, p. 54):

"Despite its clarity this paragraph has been a source of endless confusion in the literature. If this statement is to be taken literally, as Mendel most assuredly intended it to be taken, then it says quite simply that he gave conditional acceptance to the view, expressed by Gaertner, "that species are fixed within limits beyond which they cannot change." Nothing could be clearer. Nevertheless, interpretations of this passage have been given which are remarkable for their extreme departure from accepted use in both the German and English languages" (kursiv von Callender).

- Worauf die Diskussion der Fehldeutungen von Fisher, Gavin de Beer, Krizenecky und Gedda folgt. Bishop (1996, p. 208) stimmt Callenders Kommentar voll zu und erwähnt Darwins Beurteilung zu Gärtner als "so good an observer and so hostile a witness".

Auch zu den Möglichkeiten der Variabilität und der Artbildung bei Kulturpflanzen stellt Mendel im deutlichen Kontrast zu Darwin fest (1866, p. 36):

"Man hat häufig die Meinung ausgesprochen, dass die Stabilität der Arten durch die Cultur in hohem Grade erschüttert oder ganz gebrochen wurde, und ist sehr geneigt, die Entwicklung der Culturformen als eine regellose und zufällige hinzustellen; dabei wird gewöhnlich auf die Färbung der Zierpflanzen, als Muster aller Unbeständgkeit, hingewiesen. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum das blosse Versetzen in den Gartengrund eine so durchgreifende und nachhaltige Revolution im Pflanzenorganismus zur Folge haben müsse. Niemand wird im Ernste behaupten wollen, dass die Entwicklung der Pflanze im freien Lande durch andere Gesetze geleitet wird, als im Gartenbeete. Hier wie dort müssen typische Abänderungen auftreten, wenn die Lebensbedingungen für eine Art geändert werden und diese die Fähigkeit besitzt, sich den neuen Verhältnissen anzupasssen. Es wird gerne zugegeben, dass durch die Cultur die Entstehung neuer Varietäten begünstigt und durch die Hand des Menschen manche Abänderung erhalten wird, welche im freien Zustande unterliegen müsste, allein nichts berechtigt uns zu der Annahme, dass die Neigung zur Varietätenbildung so ausserordentlich gesteigert werde, dass die Arten bald alle Selbstständigkeit verlieren und ihre Nachkommen in einer endlosen Reihe höchst veränderlicher Formen aus einander gehen. Wäre die Änderung in den Vegetationsbedingungen die alleinige Ursache der Variabilität, so dürfte man erwarten, dass jene Culturpflanzen, welche Jahrhunderte hindurch unter fast gleichen Verhältnissen angebaut wurden, wieder an Selbstständigkeit gewonnen hätten. Das ist bekanntlich nicht der Fall, da gerade unter diesen nicht bloss die verschiedensten, sondern auch die veränderlichsten Formen gefunden werden" (Hervorhebung im Schriftbild von mir).

Endlose Evolution kann man nach Meinung Mendels weder bei Wildarten noch bei den Kulturformen feststellen bzw. induzieren. Die von ihm entdeckten Gesetze waren vielmehr die der endlichen Variation und Konstanz der Species. (Zu unserem heutigen Kenntnisstand der Artbildung bei Kulturpflanzen und Wildformen vgl. Lönnig 1993, 1995).

Bateson bestätigt den oben erwähnten Verdacht für die darwinistische Ablehnung der Mendelschen Regeln, wenn er (1924 /1928, p. 406) schreibt:

"...Mendelian analysis...has not given us the origin of species. It has finally closed off a wrong road. I notice that certain writers who conceive themselves to be doing a service to Darwinism, take thereupon occasion to say that they expected as much and that from the first they had disliked the whole thing."

Die ganze Palette der Widerstände gegen die Vererbungsgesetze zu Beginn des 20. Jahrhunderts sei zusammenfassend mit einem Wort von Tschermak-Seysenegg verdeutlicht (wobei der Einfluß der Darwinschen Theorien nach den oben zitierten Worten von Bateson, Baur, Johannsen u. a. an erster Stelle steht) (1951, p. 171):

"In the beginning the pioneers of Mendelism had to combat considerable resistance. The far-reaching importance of the discovery was denied or minimized. The leader of the English Mendelists, William Bateson, and his co-workers were opposed by the biometricians; in Sweden Nilsson-Ehle had a difficult time in converting the older so-called "high-breeders", and Johannsen succeeded only gradually in interesting the non-mathematically inclined majority of botanists in the elements of this precise science of inheritance. In Austria and Germany many pure botanists, so-called "unapplied" by Prof. Baur in contrast with the "applied" groups, did not immediately grasp the meaning of combination breeding for their practical use." (Zum Gebrauch des Begriffs 'Biometriker' vgl. Anmerkung am Ende der vorliegenden Arbeit.)

Daß die 'Biometriker' die Mendelschen Befunde wegen des Widerspruchs zu Darwins Ansichten über Vererbung und Evolution ablehnten, haben wir oben schon gehört. Wer aber hätte gedacht, daß das auch auf die 'high-breeders' in Schweden zutraf? Akerberg berichtet (1986, p. 2):

"Nilsson-Ehle again reminds of the 1890s, when - as a natural consequence of the mode of thought then prevailing within the theory of evolution - a continued improvement of pedigree varieties was believed in, continual selection consequently being expected to be successful. But he writes, in conclusion, that as eventually the results were in the negative, and Mendel's and Johannsen's work becoming known in the beginning of the 1900s, continual selection within pedigree lines was gradually abandoned" (Hervorhebung im Schriftbild von mir).

"The mode of thought then prevailing within the theory of evolution" dürfte auch auf die von Tschermak-Seysenegg erwähnten 'non- mathematically inclined' und 'pure botanists' zutreffen.

M. W. Strickberger faßt sehr gut den inneren Widerspruch zwischen Darwinismus und dem Mendelschen Ansatz zusammen, wenn er folgende Punkte herausstellt (1988, p. 117):

"Nach Mendel änderten sich die betrachteten Faktoren während des Zeitraums der Beobachtung nicht, sondern drückten sich nur in neuen und unterschiedlichen Kombinationen in der Nachkommenschaft aus. Für diejenigen Biologen, die nach der Ursache der Variabilität in der Evolution suchten, bedeuteten Mendels Befunde das Gegenteil, nämlich eine unannehmbare "Konstanz" der Erbfaktoren. Hinzu kam, daß die Merkmale, die Mendel bei seinen Experimenten benutzte, Beispiele für diskontinuierliche Merkmale waren. Das heißt, Mendel beobachtete Unterschiede, für die es nur "alles oder nichts" gab, zum Beispiel lang oder kurz, glatt oder runzelig, gelb oder grün, usw. Viele Biologen, wie Darwin und andere, die sich mit den Problemen der Vererbung befaßten, suchten nach allmählichen Änderungen von einem Typ zum anderen, nach kontinuierlicher Veränderung." (Hervorhebung im Schriftbild von mir.)

Die Opposition des Darwinismus ging soweit, daß im Jahre 1903 das Britische Wissenschaftsmagazin Nature keine weiteren Arbeiten von Mendelisten zur Publikation mehr annahm (Zirkle, 1964, p.68: "The controversy became so bitter that in 1903 the British periodical Nature closed its columns to the Mendelians. The columns of Biometrica had already been closed to them"). Das nenne ich den Versuch der Blockade eines ganzen empirischen Wissenschaftszweiges im Namen des Darwinismus! Interessanterweise fällt in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die Gründung mehrerer unabhängiger genetischer Zeitschriften - wohl zum Teil als Reaktion auf die darwinistischen Blockadeversuche, aber sicher auch aufgrund der Fülle interessanter Befunde des aufblühenden neuen Wissenschaftszweiges.

Die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (nicht zuletzt aufgrund der eindeutigen experimentellen Daten) erfolgte weltweite Anerkennung der Mendelschen Regeln - von den Darwinisten einmal abgesehen - führte dann konsequenterweise zu einem Tiefpunkt in der Geschichte des Darwinismus.


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