BEISPIELE HEUTIGER NEODARWINISTISCHER NICHT-BEWÄLTIGUNG DES 'MENDEL-KAPITELS'
G. L. Stebbins läßt in seiner Einleitung zum neodarwinistisch ausgerichteten Werk EVOLUTION (1977, zusammen mit Dobzhansky, Ayala und Valentine) sämtliche oben zitierten Schwierigkeiten zwischen "Mendelismus" und Darwinismus weg - wie übrigens weitere Autoren, etwa K. Günther in seinem Beitrag ZUR GESCHICHTE DER ABSTAMMUNGSLEHRE in Heberers EVOLUTION DER ORGANISMEN, 3. Aufl., Bd.1, pp. 3 - 60, der dafür den "Triumph der Selektionstheorie" durch die 'Wiederentdeckung' der Mendelschen Regeln nach gelungener Synthese mit dem Darwinismus hervorhebt (p. 58). Beim Lesen einer derart verkürzten Geschichtsschreibung (vgl. auch Wright 1982, Dennet 1995), die das für die eigene Sache unangenehme Kapitel dadurch bewältigt, indem sie es ausläßt, ahnt man gar nicht, daß es da je Schwierigkeiten gegeben hat.
Für das 20. Jahrhundert kann man wohl G. L. Stebbins als den führenden Vertreter der Synthetischen Evolutionstheorie auf dem Gebiet der Botanik bezeichnen. Er schreibt, daß die Einwände von Jenkins gegen Darwin nur durch das Mendelsche Genkonzept zu lösen waren (Jenkins gab zu bedenken, daß die Wirkung der natürlichen Selektion durch Kreuzung der selektierten Individuen mit der Ausgangspopulation bei Vererbung erworbener Eigenschaften durch Partikel in mischbaren Flüssigkeiten wieder aufgehoben wurde) und fährt dann fort:
"This being the case, the history of evolutionary theory during the three decades that followed the rediscovy of Mendel's laws is one of the most extraordinary paradoxes in the history of science. Far from lending strength to Darwin's theory of natural selection, the first decades of Mendelian genetics were largely responsible for a temporary decline in Darwin's reputation among biologists. Anti-selectionist works, such as A. F. Shull's textbook on evolution (1936) and The Variation of Animals in Nature by G. C. Robson and O. W. Richards (1936), became standard reading for many undergraduate and graduate students in biology, and many professors told their students that "Darwinism is dead," by which they meant that natural selection could not be regarded as a major agent of evolutionary change. The then current dogma on the mechanisms of evolution was well expressed by T. H. Morgan in The Scientific Basis of Evolution (1932). Morgan presented three possible explanations: the inheritance of acquired adaptations, which he rejected; natural selection which he regarded only as a way of purifying the germ plasm from harmful mutations; and mutation, which he regarded as the only significant factor capable of bringing about evolutionary change, including the origin of more complex organisms. A common belief among biologist of this period was that some as yet unknown processes would have to be discovered before evolution could be fully understood."
Der Niedergang des Darwinismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war nach der obigen Dokumentation nun keineswegs eines der "ungewöhnlichsten Paradoxe" in der Geschichte der Naturwissenschaft, sondern die folgerichtige Reaktion auf den darwinistischen Dogmatismus, der selbst noch nach der dreifachen, unabhängigen 'Wiederentdeckung' der Vererbungsgesetze alles daransetzte, die Anerkennung dieser Tatsachen zu verhindern (vgl. oben).
Wie erklärt Stebbins seine Auffassung vom Paradox in der Geschichte der Naturwissenschaften?
"Several factors contributed to this situation. First, neither the rediscoverers of Mendel's laws nor their immediate followers, such as Bateson, were naturalists."
Dem kann niemand, der sich mit den Arbeiten von Bateson, de Vries, Correns, Tschermak, Baur, Goldschmidt u. a. beschäftigt hat, zustimmen. Sie alle waren (vielleicht bis auf Tschermak, der sich mehr der praktischen Umsetzung der neuen Erkenntnisse widmete) Naturforscher und "naturalists" ersten Ranges. Vgl. auch B. Bateson: "William Bateson, F.R.S., Naturalist" (1924). (Der Begriff "naturalist" hat seine eigene Geschichte, vgl. dazu z. B. das Oxford Dictionary, und zum Begriff "natural philosophy" Stevens 1994. Stebbins meint hier offensichtlich diejenigen Naturwissenschaftler, die Species und die Frage der Artbildung in der Natur studieren.)
O. Renner berichtet zum Beispiel über Bateson (1961, p. 5):
"Statt weitere Stammbäume zu erdichten, will er den Dämon der Evolution am Webstuhl belauschen. Im westlichen Zentralasien gibt es zahlreiche Seen mit verschiedenem Salzgehalt. Er reist über Moskau an den Aralsee, zieht vom Frühjahr 1886 bis zum Herbst 1887 durch die Kirgisensteppe, meist zu Pferd, und sammelt Proben aus der Fauna von 500 kleinen Seen. Bei den Crustaceen sind die Veränderungen mit dem Salzgehalt so gering, daß er nichts darüber veröffentlicht. Bei der Herzmuschel, Cardium edule, kann er an den terrassierten Rändern einiger ganz ausgetrockneter Seen ermitteln, daß die Schalen um so dünner sind, je salzhaltiger das Wasser war, in dem sie sich einst gebildet haben. Aber er kommt zu dem Urteil, daß hier nur direkte, modifizierende Wirkung des Milieus am Werk war, nicht erbliche Variation."
Und Renner über Correns (p. 15):
"Von der Arbeitswut, die ihn auch auf Reisen und in den Ferien nicht losließ - bei Blankenburg in Thüringen zählte er einmal 2527 wilde Primelstöcke und 1676 Stengel aus gekauften Primelsträußen nach der Griffellänge aus - , erhält man erst ein ungefähr richtiges Bild, wenn man noch von dem Berg der unveröffentlichten Aufzeichnungen erfährt, die sich wie das Primel-Intermezzo in seinem Nachlaß fanden; nach einer Mitteilung seiner Mitarbeiterin EMMY STEIN umfaßten die Protokolle 340 Gattungen...Correns war Vollblutbotaniker. Schon als Gymnasiast war er ein trefflicher Kenner der einheimischen Flora, und später hat er ein Herbarium von vielen Tausend Bogen zusammengebracht." (Hervorhebung im Schriftbild der beiden Zitaten von mir.)
Sogar an einer Monographie der Gattung Cerastium hat Correns gearbeitet. Darwins Theorie der kontinuierlichen Evolution lehnte er ab und vertrat mit de Vries, Bateson und anderen eine sprunghafte Entstehung der Arten (Jahn faßt die Meinung von Correns kurz zusammen und kommentiert 1990, p. 447):
"Mit einer Übersichtsarbeit über Experimentelle Untersuchungen über die Entstehung der Arten auf botanischem Gebiet (1904) unterstützte C. Correns die Vorstellung von einem sprunghaften Auftreten "einer sofort erblichen neuen Eigenschaft" durch eine plötzliche Veränderung des Keimplasmas durch Um- oder Einlagerung vohandener oder neuer "Moleküle", denn - nach der Atomtheorie - könne Änderung "nur durch einen Sprung" geschehen. Hierzu vergegenwärtige man sich, daß zur gleichen Zeit die Quantentheorie von Max Planck (1900), die Atomstrukturhypothese von J. J. Thompson (1904) und die Atomumwandlung durch M. und P. Curie (1903) bekannt wurden, die nicht nur Physik und Chemie, sondern auch das Denken der Biologen beeinflußten, die nach den "materiellen Grundlagen" suchten."
Zur vom (Neo-)Darwinismus weit überschätzten Bedeutung der Selektion betont Correns wiederholt (so zum Beispiel in der eben schon erwähnten Arbeit von 1904, - Nachdruck 1924, p. 396):
"Die natürliche Zuchtwahl j ä t e t nur, sie hat unzählige Formen beseitigt, und so L ü c k e n geschaffen, aber nichts Neues hervorgebracht. Wenn von Anfang des Lebens auf unserer Erde an sich alle Nachkommen jedes Individuums entwickelt hätten und zur Fortpflanzung gekommen wären, wenn also der Kampf ums Dasein völlig ausgeschaltet worden wäre, so hätten die verschiedenen Pflanzenstämme doch dieselbe Organisationshöhe erreichen können, die wir jetzt finden."
Es sind diese im Gegensatz zum Darwinismus stehenden Auffassungen von Correns und anderen Pionieren der Genetik, die Stebbins veranlassen, sie nicht mehr als "naturalists" anzuerkennen. Ein "naturalist" ist auch ein Darwinist!
Weiter Stebbins:
"They knew little or nothing about variation patterns in populations of animals or plants in nature, or about interactions between organisms and their environment."
Die Arbeiten von Bateson sind voll von Beobachtungen und Fragestellungen zur Variabilität in der Natur (ausführlich z.B. in PROBLEMS OF GENETICS, 1913, 258 Seiten), so daß Jahn (1982, p. 441) über Bateson schreiben kann:
"Seine ursprüngliche Fragestellung führte ihn zu populationsgenetischen Arbeitshypothesen und Ergebnissen, die aktuell geblieben sind."
Johannsens Arbeit ERBLICHKEIT IN POPULATIONEN UND IN REINEN LINIEN (1903) ist ein Meilenstein in der Geschichte der Genetik. Daß die 'Wiederentdecker' der Vererbungsgesetze (sowie ihre unmittelbaren Mitarbeiter und Nachfolger) nichts über die Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt gewußt haben sollen, ist angesichts der Studien Johannsens zum Themenkreis "Phänotyp - Genotyp" nicht haltbar. Außerdem hatte de Vries "Beobachtungen und Experimente zur Klärung der Variabilität angestellt und vor allem Darwins Pangenesishypothese nachprüfen wollen" (Jahn, p. 436). Man vergleiche insbesondere die ausführlichen Studien von de Vries zum Artbegriff 1906. Von Correns stammen die ersten gründlichen Untersuchungen zur Kern-Plasma-Relation und deren Auswirkungen auf die Ontogenese der Pflanzen, - Untersuchungen, die die Berücksichtigung der oben erwähnten Wechselwirkungen zwischen Organismen und Umwelt voraussetzen. Tatsächlich hat auch dieser 'Wiederentdecker' und Pionier der Genetik den Unterschied zwischen Modifikation und nicht-erblichen Eigenschaften immer wieder hervorgehoben (vgl. z. B. das Zitat unten). Ohne Berücksichtigung dieser Fragen wären die Mendelschen Regeln kaum zu begründen gewesen und die Mutationstheorie nicht aufgestellt worden.
Auf der anderen Seite ergibt sich die Frage nach den Interaktionen zwischen den Organismen und ihrer Umwelt auch direkt aus den Mendelschen Entdeckungen. B. Flad-Schnorrenberg macht auf diesen Punkt (1978, p. 130) wie folgt aufmerksam:
"Wurde der eigentliche Begriff des Genotypus und des Phänotypus auch erst im Jahre 1906 von Johannsen eingeführt und genau formuliert, so ergibt sich diese Unterscheidung doch, wenn auch noch unbenannt, aus den Mendelschen Folgerungen: nämlich zwei innere Faktoren, von denen einer in diesem nicht aufzutauchen braucht, bestimmen das Erscheinungsbild. Wie wir uns erinnern, waren voher die Variationen in der Erscheinungsform rein beschreibend erfaßt worden. Das Erscheinungsbild stellte - wenn man so sagen darf - ausschließlich das Individuum dar. Nun wird durch Mendel zum ersten Male gezeigt, daß ein Unterschied besteht zwischen "innen" und "außen". Zwischen dem durch das Erbgut, das heißt genetisch bestimmten "Typus" und dem, der als "Phänotypus" in Erscheinung tritt. Dieser Unterschied bezieht sich übrigens nicht nur auf Erbgut und Erscheinungsbild, er gilt auch für die anderen Bereiche der Biologie."
(Vgl. auch Henig 2001*) Damit war der Grundstein für eine wissenschaftliche Bearbeitung des Verhältnisses und der Interaktionen zwischen den Organismen und ihrer Umwelt überhaupt erst einmal gelegt worden. Vor und sogar noch nach Mendel redivivus wurden - nicht zuletzt vom Darwinismus - "die Variationen in der Erscheinungform rein beschreibend erfaßt". Die Modifikationen wurden als Hauptursache der Evolution betrachtet (Darwin, Haeckel, Pearson, Weldon und viele andere sowie die "true Darwinians" mit Mayr und Rensch - in der Mehrzahl bis etwa 1937).
Mayr bestätigt diesen Punkt 1982, p.724, wie folgt: "For a long time after 1900 it was widely believed that continuous variation obeyed entirely different laws of inheritance than those of Mendel, and this might add another reason for the neglect of Mendel's work. After all, gradual continuous variation was widely considered after 1859 as the only variation of interest to the evolutionist." Und Mayr nennt sich selbst und Rensch als Beispiele des Neolamarckismus, die erst spät ihren Glauben an die "soft inheritance" aufgegeben haben (vgl.p. 554).
Ein weiterer Pionier auf dem Gebiet der Mendelschen Vererbungsregeln war G. H. Shull. Er hat z. B. 1908 in seinem Beitrag A NEW MENDELIAN RATIO AND SEVERAL TYPES OF LATENCY auch "diejenigen Beispiele aufgeführt, wo ein Außenmerkmal nicht in Erscheinung tritt unter dem Einfluß von irgendwelchen Außenfaktoren - Ernährungsbedingungen etwa, - welche auf das betreffende Individuum eingewirkt haben" (Baur 1909, p.401/402). Und Baur selbst hat zu diesen Fragen die bisher vielleicht klarsten Definitionen vorgelegt (vgl. Baur 1909 und die folgende Auflagen).
Jahn (1990, p. 451) hebt nach Hinweis auf Morgans meeresbiologischen Studien, speziell zur Ontogenese von wirbellosen Meerestieren, besonders seine präzise Unterscheidung zwischen erblichen und nichterblichen Variationen hervor:
"Dabei erkannte er, daß die durch äußere Bedingungen in der Ontogenese verursachten Merkmalsveränderungen nicht erblich sind und traf (wie Naegeli) eine präzise Unterscheidung zwischen erblichen Variationen und nichterblichen Modifikationen: Da in einer Art- Gruppe stets eine gleichbleibende Anzahl von Variationen vorkomme und diese gleichartige Variabilität vererbt werde, könne sie nicht die Ursache für die Veränderung von Arten sein, wobei er die "Art" nicht als reale Einheit betrachtete, sondern nur Individuen. In seinem Werk Evolution and adaptation (1903) wandte er sich kritisch gegen Darwins Variabilitäts- Selektionstheorie ebenso wie gegen die Vorstellung von der Erblichkeit erworbener Eigenschaften, wie auch gegen Haeckels Biogenetisches Grundgesetz als "Beweis" für die Abstammungslehre. Er schloß sich vielmehr voll der Mutationstheorie an und akzeptierte Selektion nur als "Test" für die Überlebensfähigkeit einer Mutante, jedoch die kleinen individuellen Variationen nicht als schöpferischen Faktor der Evolution" (Hervorhebung im Schriftbild von mir.)
Im Gegensatz zu Stebbins Überlegungen waren es die Darwinisten jener Zeit, die sich weigerten, die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaft zum Thema Organismus, Umwelt und Vererbung, "Phänotyp und Genotyp" zu akzeptieren. Weinberg kommentiert z. B. Pearsons Arbeit A FIRST STUDY OF THE STATISTICS OF PULMONARY TUBERCULOSIS (1907) wie folgt (1909, pp. 394/395):
"Die Arbeit beginnt mit einer guten Charakteristik der bis jetzt auf dem Gebiet der Vererbung begangenen Fehler, welche zu einer großen Verschwendung von Arbeit führten. Pearson selbst hat die sorgfältigen Anamnesen einer englischen Lungenheilanstalt dazu benutzt, um die Korrelation der Phthisiker mit ihren Eltern und Geschwistern zu berechnen, d. h. also den Grad der Ähnlichkeit in bezug auf die Anlage zur Tuberkulose. Pearson fand dabei, daß die Korrelationskoeffizienten der Tuberkulose den auch sonst für Vererbung gefundenen gleichen und gelangt zu dem Schluß, daß die Tuberkulose mit derselben Intensität vererbt wird, wie irgend ein normales erbliches Merkmal. Der Fehler der Schlußfolgerung beruht darauf, daß auch die Gleichheit der äußeren Lebensbedingungen zu Erkrankungen mehrerer Mitglieder einer Familie führen muß und daß man daher aus der Größe einer Korrelation nicht ohne weiteres auf die Erblichkeit einer Eigenschaft schließen darf. Der Einfluß der äußeren Umstände müßte erst ausgeschaltet werden, und erst die dann etwa noch übrige Korrelation könnte auf das Konto der Vererbung gesetzt werden.
Der von Pearson gemachte Versuch, das Vorhandensein des Mendelschen Prinzips bei der Tuberkulose auszuschließen, weil die Kinder der als rezessiv betrachteten Tuberkulösen nicht das klassische Zahlenverhältnis in bezug auf Erkrankung aufweisen, ist deshalb ohne Beweiskraft, weil die Anlage zur Tuberkulose im besten Falle nur eine relative ist und bei Panmixie die klassischen Zahlen nur ausnahmsweise in Betracht kommen." (Hervorhebung im Schriftbild von mir.)
Fast die gesamte Arbeit der darwinistischen Schulen zu Beginn des 20. Jahrhunderts leugnete diesen kategorialen Unterschied zwischen Phänotyp und Genotyp, ganz besonders wortgewaltig Haeckel (siehe Zitat Stubbe oben und weitere Ausführungen unten).
Selbst A. Weismann, der als einer der wenigen Darwinisten seiner Zeit klar gegen die Hypothese der Vererbung erworbener Eigenschaften Stellung bezog und die Mendelschen Regeln akzeptierte, kommentiert die Kritik von de Vries zur Darwinschen Auffassung der fluktuierenden Variation nach Hinweis auf die Determinantenhypothese (1913, Bd.II, p.283):
"Ich muß es deshalb für einen Irrtum halten, wenn de Vries und Andere die fluktuierende Variation von einem Anteil an der Umwandlung der Lebensformen ausschließt. Ich glaube vielmehr, daß sie den größeren Anteil daran hat, und zwar weil Anpassungen nicht aus Mutationen, oder doch nur ganz ausnahmsweise hervorgehen, weil aber ganze Familien, Ordnungen, ja selbst Klassen gerade in ihren Hauptcharakteren auf Anpassung beruhen; ich erinnere an die verschiedenen Familien der parasitischen Krebse, an die Wale, an die Vögel und Fledermäuse. Alle diese Gruppen können nicht durch zufälliges plötzliches, wenn auch vielleicht ruckweises "Mutieren" entstanden sein, sondern nur durch bestimmt gerichtetes Variieren, weil es durch Auslese der stets sich darbietenden Schwankungen der Determinanten des Keimplasmas allein denkbar ist."
Eine genauere Betrachtung der Determinantenlehre Weismanns zeigt, daß sein Vermittlungsversuch zwischen Mendelschen Regeln und Darwins Selektionstheorie letztlich doch wieder auf einen verkappten Lamarckismus hinausläuft. Die "Determinanten" stehen für Mendels Erbfaktoren (Gene) (1913, Bd. II, pp. 35, 39, 40, 50, 56). Weismann interpretiert diese Determinanten als "lebendige Teilchen" (p.111) und meint, daß sie als solche "ernährt werden und sich vermehren". Weiter heißt es auf den Seiten 111/112:
"Daraus aber folgt, daß Nahrung in gelöstem Zustand zwischen diese Lebensteilchen eindringt, und weiter, daß es von der Menge der den einzelnen Determinanten zufließenden Nahrung in erster Linie abhängt, ob und wie schnell dieselben wachsen...Auf der durch die Zufälligkeiten der Nahrungszufuhr bedingten ungleichen Ernährung der Determinanten scheint mir nun in l e t z t e r I n s t a n z d i e i n d i v i d u e l l e e r b l i c h e V a r i a b i l i t ä t z u b e r u h e n. Wenn durch sie z. B. die Determinante A zu einer bestimmten Zeit etwas schlechter mit Nahrung versorgt wird als die Determinante B, so wächst sie dann langsamer, bleibt schwächer und wird, wenn die Keimzelle sich zum Tier entwickelt, den betreffenden Teil schwächer hervorrufen, als er bei anderen Individuen zu sein pflegt" (von Weismann gesperrt).
Im folgenden wird dann zwischen Schwächungsvarianten und Stärkungsvarianten unterschieden. Diese durch die angenommene unterschiedliche Nahrungszufuhr erworbenen Eigenschaften der Determinanten werden nach Weismann vererbt. Nur gegen die Vererbung "funktioneller Abänderungen" im somatischen Bereich richtet sich Weismanns Kritik an Lamarck, nicht aber beim Keimplasma; denn beim letzteren reichen Unterschiede in der Ernährung aus, um die Entstehung und Vererbung sämtlicher Strukturen im Organismenreich zu erklären. Zwischen Mutation und fluktuierender Variation gibt es für Weismann keine Grenze (p.285). Dominanz, Rezessivität und intermediärer Erbgang etc. werden mit der Übertragung von Darwins Kampf ums Dasein auf allele Gene erklärt (p.56):
"Es findet also hier ein K a m p f d e r D e t e r m i n a n t e n s t a t t um die Geltendmachung, bei der das Resultat für jede der beiden von gänzlicher Unterdrückung bis zu absoluter Herrschaft wechseln kann" (von Weismann gesperrt).
Wir wollen Weismann für seine phantasievollen Ausführungen keinen Vorwurf machen, sondern nur darauf hinweisen, daß der Darwinsche Ansatz hier nicht weitergeführt hat. Bateson war mit seiner "Presence-Absence-Hypothese" (1905) ohne Darwinschen Ansatz den Realitäten wesentlich näher gekommen (vgl. Watson 1977, p.190: "The recessive phenotype often results from the failure of mutant genes to produce any functional protein (enzyme)." - Auf biochemische Einzelheiten gehen Kacser und Burns 1981 ein; weitere Details bei mir 1993).
Haeckel wollen wir als weiteren großen Darwinisten dieser Zeit zitieren. Sein Verständnis der Vererbungsvorgänge spiegelt sich z. B. in der elften verbesserten Auflage seines Werkes "Natürliche Schöpfungslehre"(1911) wieder. Die Kapitel 8 - 10 (pp.156 - 236) beschäftigen sich mit folgenden Themen: "Vererbung und Fortpflanzung", "Vererbungsgesetze und Vererbungstheorien" und "Anpassung und Ernährung. Anpassungsgesetze". Beim Durcharbeiten dieser Kapitel kann man nur feststellen, daß ein Jahrzehnt intensiver genetischer Forschung an Haeckel fast spurlos vorübergegangen ist. Die oben von H. Stubbe zitierten Sätze gelten für Haeckel auch für die Zeit nach der 'Wiederentdeckung' der Mendelschen Regeln. Mendel wird von Haeckel gar nicht erst erwähnt. Zu den Ausführungen von de Vries schreibt Haeckel (1911, p. 215):
"Die plötzlichen Spezies bildenden Mutationen sollen durch innere unbekannte Ursachen bedingt und unabhängig von den veränderlichen Einflüssen der Außenwelt sein; letztere sollen nur vorübergehende, nicht erbliche Variationen hervorbringen. Nach meiner Überzeugung ist diese scharfe Unterscheidung nicht haltbar."
Die Behauptungen, die diesem Urteil vorausgehen, seien in einigen wesentlichen Punkten zitiert. Als Entgegnung auf die Einwände Weismanns zur Vererbung somatischer Anpassungen schreibt er z. B. (p. 191):
"Nach meiner eigenen Überzeugung wie nach derjenigen vieler anderer Transformisten, besitzt hingegen die direkte Vererbung von neuen Anpassungen, im Sinne von Lamarck, die größte Bedeutung, und Tausende von Beweisen dafür liefert die vergleichende Anatomie und Ontogenie, Physiologie und Pathologie....Unter den wichtigen Erscheinungen der fortschreitenden oder progressiven Vererbung können wir an die Spitze als das allgemeinste das G e s e t z d e r a b w e i c h e n d e n o d e r e r w o r b e n e n V e r e r b u n g stellen. Dasselbe besagt eigentlich weiter nichts, als daß unter bestimmten Umständen der Organismus fähig ist, Eigenschaften auf seine Nachkommen zu vererben, welche er selbst erst während seines Lebens erworben hat. Zahlreiche Beispiele dafür liefern die Erfahrungen der Gärtner und Tierzüchter, aber auch der Ärzte, Die Vererbung erworbener Krankheiten, z. B. der Schwindsucht, des Alkoholismus, des Wahnsinns, beweist das Gesetz sehr einleuchtend" (von Haeckel gesperrt).
Seitenweise könnte man aus Haeckels Arbeiten mit solchen Zitaten fortfahren. Der Botaniker E. Dennert hatte im Streit mit Haeckel auf die neuen Befunde der Genetik hingewiesen, worauf letzterer antwortete (1910, p.14):
"Alle Einwände, welche die voraussetzungslose Naturwissenschaft gegen die mystische, im Dogma der christlichen Kirche befangene Fälschung der Entwicklungslehre durch Erich Wasmann (als Typus des "Thomasbundes") erhebt, gelten in gleichem Maße für dieselbe sophistische Entstellung der Genetik durch Eberhard Dennert (als Gründer des "Keplerbundes")." (Hervorhebung im Schriftbild von mir.)
Es ist nicht uninteressant, daß Haeckel und Mitarbeiter als Repräsentanten der "voraussetzungslosen Naturwissenschaft" die Bedeutung fundamentaler neuer naturwissenschaftlicher Entdeckungen völlig verkannten, während nun ausgerechnet die von Haeckel als Gegner jeder vernünftigen naturwissenschaftlichen Forschung eingestuften Kritiker mit ihrer "mystischen und dualistischen Weltanschauung" (p. 15 über Dennert), mit ihrem "Naturphilosophischen Fälscherbund" (p.16 über den Keplerbund), mit ihrer "Unbekanntschaft mit den biologischen Tatsachen" (p. 20 zu den Embryologiekenntnissen seiner Gegner), die neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen richtig einstuften. Was die Fälschungsvorwürfe Haeckels anlangt, vgl. H. C. Jüngst: DER STURZ HAECKELS (1910; siehe im World Wide Web unter Kurt Stüber), R. Gursch (1981) sowie E. Pennisi: HAECKEL'S EMBRYOS: FRAUD REDISCOVERED (1997 über eine Arbeit mit einer Photodokumentation von Embryonen in Kontrast zu Haeckels Abbildungen von M. Richardson 1997).
An die Stelle der kirchlichen Dogmatik trat bei Haeckel die darwinistische Dogmatik, wobei sich die letztere für die Biologie streckenweise ebenso negativ auswirkte wie die erstere in der Astronomie. Oder mit einem Wort Batesons (1904, p. 234):
"Had a discovery comparable in magnitude with that of Mendel been announced in physics or in chemistry, it would at once have been repeated and extended in every great scientific school throughout the world."
Zurück zu den Ausführungen von Stebbins. Nach der Behauptung, "daß die frühen Genetiker wenig oder nichts über die Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt gewußt hätten", fährt er fort:
"Consequently, they viewed heredity and variation in terms of cultivated plants and domestic animals, garden cultures of introduced weeds, such as Oenothera in Europe, and laboratory cultures of Drosophila."
"Variation under Domestication" heißt Darwins erstes Kapitel in seinem Hauptwerk THE ORIGIN OF SPECIES..., und er leitet sein zweites Kapitel "Variation in Nature" mit folgenden Worten ein:
"Before applying the principles arrived at in the last chapter to organic beings in a state of nature, we must briefly discuss whether these latter are subject to any variation."
Es waren Darwin und seine Anhänger, die zunächst auf diese Weise, die Vererbung und Variation betrachteten, wenn auch nicht für Oenothera und Drosophila, so doch bei der Taubenzüchtung (ein Unterthema des l. Kapitels der ORIGIN) und der Entstehung der Haustiere und Kulturpflanzen. Dieser Ansatz ist übrigens nach wie vor eine Diskussion wert. Zwei ausführliche Berichte mit entgegengesetzten Resultaten dazu finden sich z. B. in Heberers DIE EVOLUTION DER ORGANISMEN (Bd. II/2; 1971). Wir möchten an anderer Stelle darauf zurückkommen und hier nur feststellen, daß die frühen Genetiker auf beiden Gebieten, der Züchtungsforschung und der Populationsgenetik, Pionierarbeit leisteten. Da Stebbins in seinen weiteren Ausführungen über die frühen Genetiker noch darauf hinweist, daß sie niemals "das Konzept der Evolution als ein Resultat von Veränderungen in der Genfrequenz entwickelten", sei an dieser Stelle nochmals an die Ausführungen Weinbergs (Hardy-Weinberg-Gesetz etc.) erinnert, von welchem ja die ersten großen Arbeiten zur Genfrequenz in Populationen stammen. Die Nachfolger Darwins selbst hatten diese bedeutenden Ansätze aufgrund ihrer lamarckistischen Vererbungsvorstellungen abgelehnt.
Die übrigen Behauptungen von Stebbins (p.16), daß (1) die frühen Genetiker die Mutationen aus Labor und Garten nicht in natürlichen Populationen wiedererkennen konnten (vgl. dagegen Correns 1924), daß (2) die meisten Genetiker dieser Zeit "Typologen" waren und daß sie schließlich (3) als "missionaries of a new theory" alle Beobachtungen oder Phänomene herabsetzten, die die Bedeutung der neuen Theorie beeinträchtigen konnten, gehen durchweg am Kern der Sache vorbei. Abgesehen davon, daß es für alle drei Punkte zahlreiche Gegenbeispiele gibt, war der entscheidende Punkt für den Niedergang des Darwinismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Ablehnung der Mendelschen Regeln (und allen damit verbundenen Schlußfolgerungen für die Evolutionsfrage, die Züchtungsforschung, die Populations- und Humangenetik) durch die darwinistischen Schulen.
Mit scharfer Polemik gegen die Mendelschen Regeln manövrierten sich die Darwinisten dieser Zeit in eine Entweder-Oder-Position zum 'Mendelismus', dessen Aufstieg dann zwangsläufig mit einem Niedergang des Darwinismus einhergehen mußte. Es waren die Darwinisten, die als Missionare einer neuen Theorie alle Beobachtungen und Phänomene herabsetzten, die ihre Theorie beeinträchtigen konnten. Und zu den erstaunlichsten Phänomenen der (neo-) darwinistischen Geschichtsschreibung gehört das nach Stebbins oben dokumentierte und von weiteren Neodarwinisten (siehe im Prinzip auch Mayr 1982, p. 119, Dennet 1995, p. 20) geteilte Zerrbild der Wissenschaftsgeschichte zur Entdeckung und 'Wiederentdeckung' der Mendelschen Gesetze und deren Auswirkungen auf Darwins Theorie.
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*Robin M. Henig bemerkt nach Hinweis auf Mendels doppelt rezessive Rückkreuzungen und seine Kommentare, 2001, pp. 173/174: "Mendel legte mit dieser Erkärung den Grundstein für die moderne Genetik, indem er zeigte - zumindest lässt sich das zwischen den Zeilen lesen - , dass er den Unterschied zwischen dem Erscheinungsbild einer Pflanze und dem ihr zugrundeliegenden Bauplan begriff. Im fehlte lediglich das entsprechende Vokabular; dieses sollte erst nahezu 50 Jahre später zur Verfügung stehen, als man mehr über die Zelle und die Gene wusste. Aber nichtsdestoweniger zeigte er den Unterschied zwischen Phänotyp und Genotyp, wie wir es heute nennen, auf. Für Mendel war das die logische Erweiterung des Dominanzgesetzes: Da die dominanten Merkmale die rezessiven in den Hintergrund drängen können, sind unter der Oberfläche ihres Erscheinungsbildes nicht alle runden und gelben Erbsen gleich."