voriges Kapitel - zum Inhaltsverzeichnis - nächstes Kapitel

EINLEITUNG: DIE WIRKUNG DES DARWINISMUS AUF DIE BIOLOGISCHE FORSCHUNG

Die Wirkung des Darwinismus auf die biologische Forschung wird von der großen Mehrheit der Biologen uneingeschränkt positiv beurteilt. Forscher aus verwandten Gebieten stimmen in der Regel zu. In den Jahrzehnten nach Erscheinen der ORIGIN-Arbeit (1859) hat sich de Zahl der Naturforscher vervielfacht, Biologie und Geologie bekamen Richtung und Ziel. Eine differenzierte Betrachtung anerkennt diesen stimulierenden Effekt, weist jedoch auf mehrere bedenkliche Punkte hin. So bemerkt R. E. D. Clark (1967, p.122): "The immediate effect of Darwinism was to stimulate biological research" - gibt dann aber zu bedenken:

"Yet this stimulation, for which evolution has received so much credit, was by no means always of a healthy character. On the whole, naturalists were driven into laboratories2 instead of into the fields. They spent their time constructing "family trees", instead of discovering how animals lived. Organisms came to be thought of as isolated units divorced from their surroundings and the study of ecology, the study of the organism in relation to its surroundings, which had formed a large part of the older natural history, was now sadly neglected."

Obwohl Haeckel 1866 den Begriff Ökologie geprägt hatte, führte der darwinistische Blickwinkel der Naturbetrachtung noch nicht zu einer systematisch-ökologischen Forschung. Clark erklärt, warum:

"The Darwinians..looked upon nature as a sphere of struggle. They could think only of animals red in tooth and claw. They ceased to see the world as a harmonious whole, in which each unit had its place, and they thought of it instead as a nightmare of disharmony and chaos. Whereas an older generation of natural historians had looked for design or teleology, the newer generation of biologists began, quite deliberately, to look for the absence of design, for what they pleased to call dysteleology." (Kursiv in beiden Zitaten von Clark.)

Wenn auch immer wieder bestritten worden ist, daß Darwin und seine Nachfolger den "Kampf ums Dasein" in dieser Weise verstanden (so z. B. von Erben 1975, p.178, auch in seinen Vorlesungen 1979), so kann uns doch ein Blick ins 3. Kapitel der ORIGIN-Arbeit und in Haeckels Werke von der Richtigkeit des Clarkschen Ansatzes überzeugen.

Haeckel zum Beispiel spricht (1911, pp. 17/18) von einem "schonungslosen höchst erbitterten  K a m p f    a l l e r    g e g e n    a l l e", und findet "überall Kampf, Streben nach Selbsterhaltung, nach Vernichtung der direkten Gegner und nach Vernichtung des Nächsten...Darwin hat gerade dieses sehr wichtige Verhältnis in seiner hohen und allgemeinen Bedeutung uns erst recht klar vor Augen gestellt, und derjenige Abschnitt seiner Lehre, welchen er selbst den "Kampf ums Dasein" nennt, ist einer ihrer wichtigsten Teile." (Von Haeckel gesperrt.)

Als Beispiele für Darwins Verständnis des Kampfes ums Dasein und der Selektion können schon die Titel der Unterkapitel von Chapter III der Origin-Arbeit dienen: "Competition universal" und "Struggle for life most severe between individuals and varieties of the same species (und im Inhaltsverzeichnis): often severe between species of the same genus." Textbeispiel: "Hence, as more individuals are produced than can possibly survive, there must in every case be a struggle for existence, either one individual with the other of the same species, or with the individuals of distinct species, or with the physical conditions of life." Nach etwa fünf Seiten Ausführungen faßt Darwin zusammen:"In looking at nature, it is most necessary to keep the foregoing considerations in mind - never to forget that every single organic being may be said to be striving to the utmost to increase in numbers; that each lives by a struggle at some period of its life; that heavy destruction inevitably falls either on the young or old, during each generation or at recurrent intervals" (Darwin, pp. 68, 71 - man vgl. den Text im Zusammenhang, um zu ermessen, ob Haeckel seinen Meister auch tatsächlich richtig verstanden hat.)

Sicher enthielt eine solche Naturbetrachtung die Möglichkeit, vorher unterschätzte Sachverhalte näher zu analysieren, in ihrer Verabsolutierung mußte sie jedoch an den wesentlichen Zusammenhängen vorbeigehen. Und in ihrer Übertragung auf den Menschen wird diese Auffassung zudem zu einer mörderischen Philosophie. Sie ist unter anderem der direkte Weg zu Hitlers "Mein Kampf" mit allen Folgeerscheinungen (dazu später mehr).

Ich werde übrigens den Verdacht nicht los, daß Haeckel die "Vernichtung des Nächsten" - siehe Zitat - an die Stelle der christlichen Nächstenliebe setzen will. Normalerweise gebraucht man jedenfalls den Begriff des "Nächsten" nicht für die Tierwelt. Das paßt übrigens zu zahlreichen eugenischen Bestrebungen bis hin zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern.

Dazu sei ein Schlüsselpunkt hier noch erwähnt: Haeckel war es, der dem Darwinismus in Deutschland den Weg zur wissenschaftlichen Anerkennung bahnte und auch in weiten Teilen der Bevölkerung zu großer Popularität verhalf. Pat Shipman bemerkt in ihrem Beitrag The Evolution of Racism (1994, pp. 134/135):

"The influence of Haeckel's anti-Semitic views on German society and the Nazi party was immense because of his huge personal following and high scientific standing. Indeed, the sound of Haeckel's words almost certainly rang in the ears of Adolf Hitler himself. Historian of science Daniel Gasman has argued that the substance and wording of some of Hitler's writing "emerge as an extended paraphrase and at times even plagiarism of Haeckel's Natürliche Schöpfungsgeschichte and the Welträthsel, Haeckel's two most popular works. Hitler even shared Haeckel's fondness for the designation Kampf. It is only reasonable to suppose that Hitler did read these books: certainly on occasion, Hitler referred directly to many of Haeckel's most important ideas, including the biological unfitness of the Jews and the sure doom that would befall the German people if they did not cleanse themselves of such impurities. At a eulogy written in 1934 for the celebration of the centenary of Haeckel's birth, Professor Gerhard Heberer proclaimed, "It is to be recalled at this opportunity that Haeckel was one of the first fighters for eugenic measures. His proposals were being brought into reality in the new Reich.""

Heberer wiederum gehörte zu den führenden Neodarwinisten bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts und war Herausgeber des vielbändigen Werkes Die Evolution der Organismen (mehrere Auflagen). In diesem Zusammenhang sollte auch K. Lorenz kurz genannt werden. Müller-Hill kommentiert den Fall (1987, p. 13) wie folgt:

"Professor Konrad Lorenz, Nobel Prize winner in 1973, strongly attacked those Nazis who did not accept the Darwinian view of evolution. He argued (making sense) that Darwinism applied to mankind was the core of the Nazi creed and that he had turned a student who was formerly hostile to Nazism into an ardent Nazi by simply teaching a course on evolution."

Eine andere Frage soll uns hier in der Einleitung noch kurz beschäftigen. Wie behandelt der Darwinismus sachliche Einwände? Nüchterne Naturwissenschaft nimmt sachlich begründete (konstruktive) Kritik gern zur Kenntnis. Uexküll, den man zu den großen Biologen des 20. Jahrhunderts zählen darf (siehe seine Arbeiten unter http://www.zbi.ee/~uexkull/publik. htm), bemerkt (1921, p.191):

"Der Darwinismus, dessen logische Folgerichtigkeit ebenso zu wünschen läßt wie die Richtigkeit der Tatsachen auf die er sich stützt, ist mehr eine Religion als eine Wissenschaft. Deshalb prallen alle Gegengründe an ihm wirkungslos ab; er ist weiter nichts als die Verkörperung des Willensimpulses, die Planmäßigkeit auf jede Weise aus der Natur loszuwerden. So ist der Entwicklungsgedanke die heilige Überzeugung Tausender geworden, die aber mit einer vorurteilslosen Naturforschung gar nichts mehr zu tun hat."

Wir wollen im folgenden untersuchen, wieweit solche Behauptungen über den Einfluß des Darwinismus auf die biologische Forschung gerechtfertigt sind. Wenn die Aussagen in ihrer Zielrichtung zutreffen, dann müßte die Darwinsche Theorie tatsächlich wesentlichen Ansätzen in der Wissenschaft den Blick verstellt und die Tätigkeit vieler Forscher zumindest vorübergehend auf den verschiedensten Fachgebieten in eine Richtung gedrängt haben, die sich rückblickend nur noch als Sackgasse bezeichnen ließe.

Wie eingangs schon angedeutet, bin ich dabei so vorgegangen, daß ich möglichst vielen Spitzenvertretern der Fachgebiete das Wort gegeben habe, vor allem auch Pionieren als unmittelbar Betroffenen auf dem einen oder anderen Gebiet. Als Genetiker habe ich meinen Bereich ausführlich behandelt und bin dabei auch genauer auf die verschiedenen Einwände aus neodarwinistischer Sicht eingegangen.

Für die anderen sowie weitere Fachgebiete ließe sich das mit größter Wahrscheinlichkeit genauso detailliert durchführen, aber meine Sammlungen sind hier nicht so umfangreich.

Jedenfalls ist eine ganze Anzahl hervorragender Biologen und Biologiehistoriker in der Frage nach der Wirkung des Darwinismus auf die biologische Forschung unabhängig voneinander zum gleichen Resultat wie Clark gekommen: Wir finden auf der einen Seite Stimulation, auf der anderen aber Behinderung bis zur völligen Fehlorientierung. Es sei dazu noch erwähnt, daß ein großer Teil der im folgenden zitierten Kommentatoren dabei mit Darwins prinzipiellen Erklärungszielen im Sinne einer rein mechanistischen Betrachtungsweise in der Biologie weiter voll in Übereinstimmung ist: De Vries versucht an verschiedenen Stellen seiner Werke Darwin zu verteidigen (Darwins Nachfolger hätten den Meister in der Frage nach der Bedeutung sprunghafter Variationen zu eng ausgelegt, - was jedoch nicht der Fall ist), Bateson versucht die Aufrechterhaltung bzw. Wiedereinführung des (auch von Johann Gregor Mendel favorisierten) Schöpfungsgedankens in der/die Biologie als "Obskurantismus" zu disqualifizieren, Johannsen zollt Darwin Anerkennung für die Erneuerung der Biologie auf anderen Gebieten als der Vererbungsforschung, Stubbe hebt hervor, daß Haeckels Bedeutung für die Entwicklung und Förderung der Selektionstheorie über jeden Zweifel erhaben sei etc. - das sind in der Mehrzahl der Fälle also keineswegs die Stimmen etwa weltanschaulich befangener Gegner, die den Darwinismus abwerten möchten, sondern die der Freunde Darwins (zumindest was die allgemeine Evolutionstheorie anlangt), die sich jedoch aufgrund der wissenschaftlichen Tatsachen gezwungen sahen, Hindernisse in der biologischen Forschung aus dem Wege zu räumen.


voriges Kapitel - zum Inhaltsverzeichnis - nächstes Kapitel
Internet address of this document: internetlibrary.html
© 1998, 1999, 2000, 2001 by Wolf-Ekkehard Lönnig - loennig@mpiz-koeln.mpg.de

Disclaimer