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SCHLUSSBEMERKUNGEN ZUM HAUPTTEIL DER ARBEIT

Alle oben aufgeführten Beispiele der Fehlerhaftigkeit und Dogmatik des Darwinismus/Neodarwinismus sollten selbstverständlich kein Anlaß zur Überheblichkeit der Kritiker sein. Vielmehr sollten die Ereignisse uns bewußt machen, daß wir uns alle - ob Wissenschaftler oder nicht - in entscheidenden Fragen irren und/oder Opfer (mehr oder weniger) genialer Gedankenkonstruktionen werden können, während 'einfache Wahrheiten' uns vielleicht wenig überzeugend erscheinen. Die weite Anerkennung des Darwinismus veranschaulicht uns sehr eindringlich ein Wort des Zoologen A. Fleischmann: "Es wäre jedoch vollkommen verkehrt, wollte man die Richtigkeit einer wissenschaftlichen Theorie schlechthin nach der Zahl ihrer Anhänger beurteilen; denn die Kulturgeschichte lehrt uns viele Beispiele kennen, daß ganze Generationen von gelehrten Männern Behauptungen für wahr gehalten und mit dem Aufgebote höchsten Scharfsinnes verteidigt haben, welche heute ein Laie als unrichtig verlacht."

Diese Frage führt uns auch auf grundlegende Probleme menschlichen Erkenntnisgewinns: Wie ist es möglich, daß ein Forscher wie Ernst Haeckel mit dem Brustton der völligen Überzeugung und dem Anspruch auf totale Wahrhaftigkeit eine ganze Biologengeneration mit sich reißt, und das mit zahlreichen wissenschaftlich haltlosen Behauptungen zur Vererbung und Evolution (vgl. die Beispiele oben) und selbst nach Erweis der Unrichtigkeit damit noch soviel Erfolg hat, daß seine Thesen bis in die Gegenwart als "bedingt richtig" gelehrt werden, wie z. B. das "Biogenetische Grundgesetz"? Wie kommt es, daß ein Wissenschaftler geneigt sein kann, eine elegante Scheinlösung eher zu akzeptieren als naturwissenschaftliche Gesetze und Realitäten (Gegensatz Darwin-Mendel)? Wie ist es möglich, daß Forscher mit einer falschen Theorie "glücklich" werden können, während ihnen die Wahrheit unannehmbar erscheint und der Irrtum nur zu überzeugend?

Erscheinen diese Fragen überzogen formuliert? Zur Veranschaulichung der Legitimität der Fragen hier ein letztes Beispiel aus der Geschichte der 'Wiederentdeckung' der Mendelschen Befunde, - ein Beispiel, das in diesem Falle bedauernswerterweise sogar tragisch endete.

Der darwinistische Zoologe und Biometriker W. F. R. Weldon (Professor of Zoology at University College, London) hatte 1902 den Angriff auf Mendelsche Vererbung in der Zeitschrift Biometrika gestartet und setzte in den folgenden Jahren auch weiterhin alles daran, die Mendelschen Befunde zu widerlegen. Die lebendigste und am besten dokumentierte Darstellung des Höhepunkts der Ereignisse habe ich bei Provine 1971 gefunden. Provine berichtet über diese Widerlegungsversuche Weldons zu Hursts Entdeckung eines Mendelschen Erbganges der Fellfarbe "chestnut" bei Pferden im Jahre 1906 folgendes (1971, pp. 87):

"In 1900 C. C. Hurst, who had been experimenting with hybridization of orchids, became a zealous disciple of Mendelian inheritance. Hurst was, in Punnett's words, "over-apt to find the 3 : 1 ratio in everything he touched." Because of his desire to give the biometricians no room for attack, Bateson was sometimes skeptical of Hurst's claims. In 1906, after a study of Weatherby's General Stud Book of Race Horses, Hurst came to the conclusion that chestnut was a simple Mendelian recessive to bay and brown. He wrote a short paper on the subject and asked Bateson to communicate the paper to the Royal Society, which Bateson did although with some reluctance."

Nun wurde diese Arbeit aufgrund der Umstände ausgerechnet Weldon zur Beurteilung vorgelegt. Provine fährt fort (pp. 87/88):

"Weldon was at this time chairman of the Zoological Committee, and Hurst's paper was submitted to him. He immediately "threw himself nine hours a day into the study of The General Studbook," where he found several examples which contradicted Hurst's thesis. These exceptions he dramatically presented after Hurst had read his paper at the meeting on 7 December 1905. Hurst, standing his ground, "blandly assured Professor Weldon that he was mistaken and that these alleged exceptions were mere errors of entry." This irritated Bateson, and he withdrew Hurst's paper from publication.

Later, Hurst discovered that Weldon's most decisive cases were indeed errors of entry. He added a note to his original paper explaining this, and Bateson resubmitted the paper."

Soweit ging noch alles wissenschaftlich und redlich zu. Der eine Forscher versucht die These des anderen zu widerlegen und sucht dafür Gegenbeispiele. Der andere bemüht sich, seine Befunde zu verteidigen. In diesem Falle war es Hurst gelungen, den rezessiven Erbgang der Chestnut-Fellfarbe bei Rennpferden weiter abzusichern. Das alles war vollkommen legitim. Was aber war die Reaktion Weldons? Von einem ehrlichen Erforscher naturwissenschaftlicher Gesetze und Tatsachen dürfte man spätestens an dieser Stelle ein Einlenken Weldons erwarten. Provine berichtet statt dessen jedoch (p. 88):

"Weldon was outraged and continued his extensive study of the Stud Book in order to prove that the Mendelian interpretation did not hold. The Stud Book was in twenty volumes, and Weldon was still working on this material when, after a sudden illness, he died on 13 April 1906.
  Pearson mourned the loss of a friend. He was angry that arguing with the Mendelians had taken so much of Weldon's time. When Hurst wrote Pearson to express his regrets about Weldon, Pearson replied:
  Only a few days before his death he (Weldon) condemned in stronger language than I have ever heard him use of any individual the tone and contents of the note added to your paper. It is a judgement in which I believe every man who has the interests of science at heart will concur" (emphasis added).

Kimura bemerkt 1983: "It is said that from the strenuous effort to disprove Mendelism by searching for exceptions in the huge volumes of stud books of race horses, Weldon became exhausted, contracted pneumonia, and died in the prime of his life (see Pearson, 1906)."

Wenn Weldon gesagt hätte: "Die Lehren Darwins zur Vererbung und Evolution sind meine heilige Religion, die ich niemals in Frage stellen werde und deshalb lehne ich die Mendelschen Befunde ab" - dann wäre das ein noch tragbares Bekenntnis im Sinne der Glaubens- und Religionsfreiheit gewesen. Aber den Darwinismus zur Naturwissenschaft zu erklären, um damit die Mendelschen Befunde abzulehnen - das ist Dogmatik an der falschen Stelle.

Die Tragik der Ereignisse liegt in dem Mißverständnis Weldons, daß es Darwin voll gelungen war, mit seinen Thesen unumstößliche Wahrheiten entdeckt zu haben und daß er diese Überzeugung niemals in Frage stellte, - auch dann nicht, als die empirischen Befunde der Vererbungsforschung eindeutig dagegen sprachen. Ich habe den Eindruck, daß Weldon an dem Widerspruch - seinem unerschütterlichen Glauben an Darwin einerseits und den naturwissenschaftlichen Ergebnissen andererseits - zerbrochen ist. Er konnte Darwin nicht in Frage stellen und als Wissenschaftler letztlich auch nicht die empirischen Befunde der aufblühenden Genetik.

Sicher bedarf es zur Beurteilung der Verdienste und Schwächen eines Forschers wie Weldon (und seines Freundes Pearson) mehr als nur der Erwähnung seines dogmatischen Glaubens an Darwins Theorien und der daraus resultierenden Ablehnung der Mendelschen Befunde.

Gemäß einer Bemerkung Makowskys, der Darwins Ideen kurz vor Mendels Beiträgen überaus "schwungvoll und begeistert" dem Naturforschenden Verein in Brünn nahegebracht hatte, wurden Mendels Vorträge (1865) hingegen "mit Spott und Gelächter" aufgenommen (Richter 1941, p. 132). Statt der Bereitschaft, die neuen Befunde vorurteilsfrei zu prüfen, finden wir zu Mendels Entdeckungen immer wieder den Schatten des Darwinschen Einflusses - von Spott und Gelächter right from the beginning im Jahre 1865 bis zur Ablehnung von naturwissenschaftlichen Tatsachen mit Weldon und seinen Freunden sowie den "true Darwinians" bis 1937 über mindestens 72 Jahre. Und Spuren dieser Ablehnung haben sich bis heute erhalten (Details siehe Lönnig 1993).

Grundsätzlich sei gesagt: Wer nicht mehr ehrlich bereit ist, seine Theorien zu überprüfen und den Tatsachen zu folgen - wenn das Eingeständnis eines Fehlers schwerer wiegt als die Verbreitung von Irrtümern, wenn Ansehen, Macht und Erfolg im Zuge des Zeitgeistes einen höheren Stellenwert einnehmen als Wahrheit und Gerechtigkeit; - der wird nicht vermeiden können, daß eine genaue Geschichtsschreibung früher oder später ein kritisches Urteil über ihn fällt.

Mayr hat einmal erwähnt, daß Darwin keinen Nobelpreis erhalten hätte, weil es für generelle Konzepte keine Nobelpreise gibt. Ich möchte hinzufügen: Mendel hingegen wäre sowohl von seinen experimentellen Arbeiten als auch von seinen genetischen Konzepten (vgl. C. Stern) ein guter Kandidat gewesen!


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