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TEIL I

 

ZUFALLSMUTATIONEN, WAHRSCHEINLICHKEIT UND DAS MENSCHLICHE AUGE

 

"...I remember well the time when the thought of the eye made me cold all over, but I have got over this stage of the complaint, and now small trifling particulars of structure often make me very uncomfortable."°

Darwin an Gray

Wir wollen uns hier nicht weiter mit irgendwelchen Vorreden aufhalten, sondern direkt zum Thema übergehen: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein so ungeheuer kompliziertes optisches Organ wie das menschliche Auge, oder das Wirbeltierauge schlechthin, durch die uns bekannten definitionsgemäß richtungslosen Mutationen, d.h. zufälligen Abänderungen des Erbgutes, entsteht?

Die abstammungstheoretisch orientierten Biologen Remane/Storch/Welsch schreiben zu dieser Frage in ihrem Buch EVOLUTION (1973, pp. 160/161):

Manche Apparate können durch sukzessive kleine Schritte entstehen: eine Stelle der Haut mit Lichtsinneszellen kann durch Pigmenthäufung zu einem Augenfleck werden. In einem zweiten Schritt wird der Augenfleck zu einem Napfauge, aber dieser zweite Schritt kann nicht richtungslos an einer beliebigen Stelle erfolgen, sondern ist an den Ort des Augenflecks gebunden. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit einer Weiterentwicklung zu einem Auge stark herabgesetzt, und das ist bei jedem weiteren Schritt der Fall, so daß die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung äußerst gering wird. Darwin schrieb daher in einem Brief an Gray: "Wenn ich an das menschliche Auge denke, bekomme ich Fieber." Daß man dem Zufall nicht zuviel zumuten darf, sei an einem Beispiel nach Ludwig (1959) gezeigt: "Würde man irgendwen fragen, ob beim Würfeln eine Serie zu vierzig Sechsen auftreten könnte, wenn alle Menschen, die je auf der Erde gelebt haben, täglich tausend Serien zu vierzig Würfeln gewürfelt hätten, so würde die Antwort wohl meistens 'ja' lauten. Indessen könnte man selbst dann, wenn auf einer Million Erden zwei Milliarden Menschen seit einer Milliarde Jahren täglich 1000 x 40 Würfe machten, 19 : 1 wetten, daß unter diesen 106 x (2 x l09) x 109 x (365 x 103) Serien keine einzige mit vierzig Sechsen gewesen sei."

Apparate, zu deren Herausbildung mindestens vierzig passende Schritte am gleichen Ort notwendig waren, gibt es in großer Zahl in der Evolution. Beispiele sind die Augen von Wirbeltieren, Tintenfischen und Ringelwürmern (Alciope), die Leuchtorgane von Fischen, Krebsen (Euphausiaceen) und Tintenfischen.1)

Die Verfasser stellen fest, dass solche Phänomene mit den uns bekannten Mutationen nicht zu erklären sind.

Die hohe Unwahrscheinlichkeit des neodarwinistischen Zufallspostulats liegt in den "mindestens vierzig passenden Schritten", die für viele Organe notwendig sind. Die folgenden Ausführungen von E. Bleuler sollen den Begriff und die Unwahrscheinlichkeit dieser hier geforderten (zufälligen) "passenden Schritte" weiter beleuchten.

Vorweg noch eine Feststellung: Dass es sich bei Bleulers Gedankengängen nicht etwa um biologisch irrelevante, rein abstrakt-mathematische Ausführungen handelt, wird durch die Tatsache von über 300 erblichen (und mendelnden) Augenkrankheiten [vergl. D. Klein u. F. Franceschetti in P.E. Becker (Literaturverz.)] offenbar, bei denen gerade die so fein aufeinander abgestimmten 'Teile' des Auges sowohl in sich selbst (Form, Aufbau und Funktion) als auch in ihrem Verhältnis zueinander gestört sind.

Sehen wir uns nun Bleulers Berechnungen näher an, die zunächst nur von den 5 - 6 bekanntesten Strukturen des Wirbeltierauges ausgehen:

[Wenn jeweils] zufällige Variation die Ursache war, so mußten entstehen 1. eine nervöse Retina, 2. das Pigment, das irgendwie die Übertragung des Lichtreizes auf die Nervenenden ermöglicht oder sonst eine notwendige Rolle spielt, 3. eine durchsichtige und optisch glatte Haut, 4. eine Konvexlinse, 5. ein durchsichtiger Körper, der die notwendige Distanz zwischen Linse und Retina ausfüllt, 6. eventuell ein Schutzorgan (Deckel) [Wer schon einmal Wind und Wetter ausgesetzt war (oder beim Waschen Seife in die Augen bekommen hat) weiß wie wichtig ein Schutzorgan ist.]. Wir gehen nun nicht von einem vielzelligen Organismus aus, bei dem, wenn man den Zufall ernst nimmt, die Cornea z.B. im Bein, die Linse im Bauch, die Retina im Ohr entstehen könnte, und verlangen auch keine symmetrische Doppelanlage, wie sie bei komplizierten Geschöpfen vorhanden ist. Nehmen wir also bloß einen einzelligen Organismus, dem der Zufall ein einziges Auge bilden sollte, und setzen wir der Einfachheit halber voraus, daß jedes der erwähnten Teilorgane des Auges linear 1/20 der Körperausdehnung in jeder Richtung einnehme (bei Erythropsis agilis in Wirklichkeit weniger). Dann nimmt eines dieser Organe 1/203 des Körpervolumens ein. Teilen wir den ganzen Körper in 203 = 8000 solcher Würfel, so besteht dem Zufall nach für jedes dieser Organe eine Wahrscheinlichkeit von 1/8000, "ungefähr" oder mit seinem Mittelpunkt in einen bestimmten Würfel zu geraten. Nun müssen die Organe aber in bestimmter Reihenfolge hintereinander liegen: die Wahrscheinlichkeit, daß das zufällig geschieht, ist 1/80006 = 1/262144 x 1018. Die Cornea darf natürlich nur an der vorderen Oberfläche liegen, und auch daselbst sind nur eine oder ganz wenige Stellen geeignet. Setzen wir voraus, daß von dem als Würfel gedachten Haufen von 8000 kleinen Würfelchen in der Vorderfläche von 400 Quadraten der vierte Teil noch zu einem Sitz der Cornea dienlich wäre, was sicher viel zu viel ist, so haben wir die nützlichen Möglichkeiten um 100 zu vermehren und erhalten eine Wahrscheinlichkeit des Eintretens von 1/262144 x 1016. Die drei optischen Organe, Cornea, Linse und Glaskörper, müssen außerdem sehr gut zentriert sein; die Einreihung des Mittelpunktes irgendwo in eines der Würfelchen genügt nicht; nehmen wir an, daß eine Abweichung von 1/10 ihrer Größe noch toleriert werde, dann haben wir nach den drei Raumrichtungen für jedes wieder eine brauchbare nebst 999 unbrauchbaren Möglichkeiten, d.h. die Wahrscheinlichkeit, daß die beiden Organe bis auf 1/10 ihrer linearen Ausdehnung genau an die richtige Stelle kommen, ist 1/262144 x 1016 + 9. Die Zentrierung muß aber auch winkelrecht sein. Nehmen wir eine Toleranz der Schwankungen innerhalb eines Grades (Abweichungen von einem halben Grad von der Idealachse nach allen Seiten) an, so ist der Bruch mit 2 x l0-5*3 zu multiplizieren: 1/131072 x 1040. Auch Augenlid und Retina können nur um einen Bruchteil ihrer Größe abweichen, so daß der Nenner noch um einige Stellen zu vermehren wäre. Hatte er schon eine schwindelnde Höhe, so können den weiteren Überlegungen unsere Zahlenvorstellungen gar nicht mehr folgen. Die Pigmentpartikel müssen eine ganz genaue Lage zu den einzelnen mikroskopisch feinen Nervenendigungen haben; in der Retina eines komplizierten Auges sind Millionen solcher Pigment- und Nervenelemente in einer Lage, die nach Mikren zu bestimmen ist. Eine Linse darf keine unregelmäßige Form, nicht die Gestalt einer Hand oder eines Tisches haben; von den unendlich vielen Möglichkeiten ist nur eine tauglich. In einer richtig funktionierenden Linse hat ferner jede der (bei größeren Tieren viele Millionen) Zellen ihre bestimmte Lage, um die richtige Krümmung hervorzubringen, und sie hat je nach ihrer Lage ihren eigenen Brechungsindex. Einen sehr genau bestimmten Krümmungsradius und damit genau bestimmte Lage und Form der einzelnen Zellen müssen aber auch Cornea und Retina haben. Dann kommen bei den besser ausgebildeten Augen Iris und Akkomodationsapparat hinzu, die nicht nur in genau richtiger Form, Größe und Lage angebracht sind, sondern auch einen ungemein fein funktionierenden nervösen Apparat besitzen, der zu gleicher Zeit und am richtigen Ort zufällig entwickelt worden wäre. Die Iris darf das Sehloch auf Licht nicht vergrößern, sie muß es verengern, und zwar in bestimmten Verhältnissen, der Akkomodationsapparat muß mit enormer Feinheit den Brennpunkt der aus verschiedensten Entfernungen kommenden Lichtstrahlen auf die Retina richten. Es ist leicht abzusehen, daß solche Umstände die Wahrscheinlichkeit eines Zufalls auf unendlich nahe an Null herabsetzen.2) [Wobei anzumerken ist, dass bei dieser Berechnung die Möglichkeit der "zufälligen" Entstehung der einzelnen Strukturen noch vorausgesetzt wird.]

Prof. Dr. G. Siegmund kommentiert dazu (1965, p. 275; ähnlich Bleuler):

Alle diese Unwahrscheinlichkeiten aber einmal gesetzt, wäre selbst damit noch kein funktionsfähiges Organ gegeben. Denn rein isoliert gegeben, wüßte das Tier - um diesen vermenschlichenden Ausdruck einmal zu gebrauchen - damit nichts anzufangen. Erst dann erhält es seinen Sinn, wenn es in die organismische Ganzheit durch mannigfache Beziehungen eingebaut wird. Nur durch eine Menge von Reflexen und Instinkten, die das Sehen biologisch sinnvoll an Licht und Dunkel, an Form und Farbe, an Nähe und Ferne anpaßt, es bei Beute mit Angriffsinstinkten, bei Feinden mit Abwehrinstinkten paart, vermag das Auge ein "nützliches" Organ zu werden. Andernfalls wäre kein Nutzwert vorhanden oder es wäre in vielen Fällen sogar schädlich. Somit kann also, selbst die überaus große Unwahrscheinlichkeit einer zufälligen isolierten Entstehung eines Einzelorgans gesetzt, dieses selbst seinen Nutzwert erst durch den organismischen Ganzheitsbezug erlangen. Mithin ist auch hier nicht auszuscheiden, was die Annahme der Zufallshypothese eigentlich vermeiden wollte.

Bei der unfaßbar kleinen Zahl, die die Unwahrscheinlichkeit der zufälligen Entstehung eines biologisch zweckmäßigen Organs ausdrücken soll, müßte auf die Entstehung eines einzigen brauchbaren Teilorgans eine Unsumme von zufällig entstandenen Probeorganen kommen, die ihre Probe erst im Kampf ums Dasein zu bestehen. hätten. Tatsächlich aber sehen wir nirgendwo solche Probeorgane entstehen.3)

Prof. B. Dürken hat den Gedanken, dass eine isolierte Weiterentwicklung eines einzelnen Organs wenig Sinn hätte, noch schärfer so gefasst:

Weder bringt es dem Individuum einen Vorteil, wenn irgendein kleiner Teil seines Körpers für sich neu oder anders gestaltet wird, noch kommt dadurch ein phylogenetischer Fortschritt zustande. Das kann nur dann der Fall sein, wenn gleichzeitig alle anderen Teile des Individuums gleichsinnig umgestaltet werden, wenn sie alle an die neue Situation und aneinander angepaßt oder koadaptiert werden. Eine alleinstehende Veränderung kann nur Nachteil bringen. Die phylogenetische Entstehung des komplizierten Auges eines höheren Tieres etwa läßt sich nicht so vorstellen, daß bei der primitiven Stammform einzelne Hautzellen aus irgendwelchem Grunde in Richtung auf besondere Lichtempfindlichkeit variierten, sondern zugleich müssen alle anderen Bestandteile jenes Individuums in gleicher und dazu passender Richtung variiert haben. Und zwar ist das nicht nur notwendig für die unmittelbar zum Auge sich entwickelnden Teile, sondern für alle anderen, denn sonst würde kein einheitlich funktionsfähiger neuer Typus entstehen können. Es müssen also etwa alle Zellen, die zu Empfängern des Lichtreizes werden, in untereinander völlig übereinstimmender Weise sich neu gestalten; zugleich müssen Nervenbahnen und Ganglienzellen in ganz genau passender Form verändert und ausgestaltet werden; andere Zellgruppen müssen in einer der Entwicklung des werdenden Organs entsprechenden Weise in Richtung auf die Lieferung von Hilfsapparaten (Linse, Lider, Muskeln, Blutgefäße, Schutzhüllen) variiert werden, der ganze Körper in allen seinen Teilen muß ebenfalls zugleich entsprechende Ausgestaltung der Differenzierung und Funktion erfahren usw. Da nach Darwinismus und Lamarckismus die phylogenetische Entwicklung in kleinen Etappen erfolgt, muß sich diese koadaptive Variation aller Teile bis in die einzelnen Zellen und ihre immer mehr spezialisierten Differenzierungen hinein immer wieder in völliger Harmonie wiederholen. Geschieht das nicht, so ist keine wirkliche Anpassung des Lebewesens und keine für die positive Auslese brauchbare Stufe erreicht. Da durch Entwicklung des Auges allein kein neuer Typ entsteht, gilt die Forderung dieser unvorstellbar verwickelten Koadaptation zugleich für alle anderen Organe, die ja ebenfalls in angemessener Weise variiert und durch Einzelgestaltung ihrer Bestandteile in die phylogenetische Um- und Weiterbildung einbezogen werden müssen.4)

Das eben Gesagte soll noch einmal durch die folgende Abbildung verdeutlicht werden. Sie zeigt zum einen das Chiasma opticum (die Überkreuzung der beiden Sehnerven) und zum anderen das auffallend vergrößerte Gehirnzentrum (Lobus optiens) - der Computer, in dem die vom Auge kommenden Impulse sinnvoll verarbeitet werden. All die oben aufgeführten Strukturen und Fähigkeiten müssten gleichzeitig und koordiniert weiterentwickelt werden, damit ein funktionsfähiges, biologisch sinnvolles Ganzes dabei herauskommen kann. Die oben zitierte (Un-) Wahrscheinlichkeit trifft somit jeweils noch einmal auf all die anderen Strukturen und Organe und obendrein auf ihre Koordination zu. Sie potenziert sich damit wohl auch in dieser Hinsicht unendlich nahe an Null.

Gehirn vom Kabeljau (Gadus morrhua). (Nach Bütschli aus Kämpfe/Kittel/Klapperstück; 3. Aufl. 1970; unterstrichen von mir) A: Ansicht von der linken Seite. B: Ansicht von ventral. III - X Gehirnnerven.5)

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es Tiere gibt, die 1. nur ein einziges Auge aufzuweisen haben (bei den Manteltieren viele Salpen und die Seescheiden), 2. zusätzlich unpaare Lichtsinnesorgane besitzen ('Scheitelaugen' bei Krebstieren und Insekten, aber auch bei Wirbeltieren: Medianaugen (oder ähnliche Bildungen) bei Cyclostomata, Pisces, Amphibia u. Reptilia) und 3. es beim Menschen die seltene Missbildung der "Zyklopie" gibt ("Hierbei sind beide Augenhöhlen vereinigt und es ist nur ein einziges, in der Mitte gelegenes Auge vorhanden". Prof. Dr. Langman6) in: Medizinische Embryologie 1972, p. 392) ist die weitere Kritik Siegmunds7) (und vor ihm G. Wolffs) völlig gerechtfertigt:

Bei den Wirbeltieren haben wir nun überdies nicht nur ein einziges Auge, sondern in symmetrischer Anordnung ein Augenpaar. Ist für das einzelne Auge die zufällige Entstehung so gut wie unmöglich, so ist es völlig undenkbar, daß an dem von der Körperharmonie vorherbestimmten Orte "zufällig" genau die gleiche Summation von "zufälligen" Entstehungsschrittchen durch riesige Zeiträume hin erfolgte. 1

Die nachstehend wiedergegebene Abbildung (mit dazugehörigem Text) aus Sobotta/Becher (Atlas der Anatomie des Menschen; Verl. Urban & Schwarzenberg 1973, pp. 116/117)8) dürfte den ungeheuren Grad an Komplikation und Koordination verdeutlichen, der allein notwendig ist, damit beide Augen sinnvoll zusammenarbeiten - Entstehung dieses komplizierten Systems durch richtungslose Mutationen?

Bei dieser Betrachtung müssen wir uns noch vergegenwärtigen, dass wir damit vom Bekannten nur einen kleinen Ausschnitt erfassen. Darüber hinaus werden laufend neue Entdeckungen gemacht und der größere Teil der Fragen ist noch unbeantwortet. Ob das ganze System überhaupt im Sinne der heutigen mechanistischen Wissenschaft auflösbar ist, bleibt mehr als fraglich; denn bei der Erforschung der psycho-physischen Seite muss der Forscher über die bisher ausschließlich betrachteten physiko-chemischen Phänomene hinausgehen.

°Man beachte den Widerspruch: Kleine unbedeutende Einzelheiten beunruhigen ihn noch - beim Auge hat er 'abgeschaltet' (obgleich er im nächsten Satz wie folgt fortfährt: "The sight of a feather in a peacock's tail, whenever I gaze at it, makes me sick" - aber auch dieses Problem ist für seine Theorie weder 'small' noch 'trifling').

1Dagegen ist wiederholt eingewandt worden, dass eine Verdoppelung wohl schon das Problem lösen würde. So einfach liegt das Problem indes nicht, wie dem Leser bei genauer Betrachtung der hochkomplexen Koordination der beiden Augen samt Augenmuskeln und der entsprechend synorganisierten Steuerungs- und Wahrnehmungszentren des Gehirns unmittelbar einsichtig werden dürfte.


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