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DROSOPHILA UND ANDERE ORGANISMEN

 

Nach Hinweisen auf die Einstellung eines (Mutationszüchtungs-) Programms möchte ich diese asymptotische Näherung an Grenzwerte auch für die Drosophila-Forschung dukumentieren. Garcia-Dorado und López-Fanjul beschreiben 1983 in ihrer Arbeit ACCUMULATION OF LETHALS IN HIGHLY SELECTED LINES OF Drosophila melanogaster einen solchen Fall und geben für weitere Beispiele Literaturhinweise. Vorweg sei bemerkt, dass sich die Autoren (wie auch andere in diesem Zusammenhang) einer ungewöhnlichen Formulierungsweise bedienen. Wenn sie z.B. auf der Seite 221 schreiben: "The increasing opposition of natural selection often causes a cessation of response in artificial selection experiments." - Dann ist mit der "increasing opposition of natural selection" die genetische Konstitution der Linie gemeint, die als Ergebnis der natürlichen Selektion verstanden wird. D.h. mit der Wahl der Begriffe wird schon die Richtigkeit der neodarwinistischen Selektionstheorie vorausgesetzt (zu den Schwierigkeiten der Selektionstheorie vgl. z.B. Kimura 1983). Genauer könnte der Satz so formuliert werden: "The increasing opposition of the genetical constitution often causes a cessation of response in artificial selection experiments." Die Autoren fahren fort:

In spite of genetic variation for the selected trait, a limit to selection is reached which can be characterized by an unstable equilibrium between these forces (Al-Murrain 1974; Verghese 1974; Minvielle 1980; Nicholas and Robertson 1980).

An extreme example of this occurs when artificial selection favours the heterozygous form of a recessive lethal. ...The present paper describes the accumulation of lethals in four lines of Drosophila melanogaster that were selected for many generations for low sternopleural bristle number, and had attained the lowest value ever reported for the trait.

(p. 222:) Our results reveal many more lethals than previously reported for lines at a selection limit (Madalena and Robertson 1975; Yoo 1980) and they are at unusually high frequencies.

Dasselbe Prinzip findet sich auch bei den Nackthunden aus Mexiko, Peru und China sowie bei der Manx-Katze: bei diesen Rassen gehen die charakteristischen Merkmale auf Heterozygotie (diesmal jedoch) mit dominanten Faktoren zurück, die im homozygoten Zustand letal sind (Robinson 1982). Ein Beispiel für ein Selektionslimit beim Menschen vgl. p. 430 unserer Arbeit.

Hartl stellt zu diesem Thema 1980, p. 300 fest:

Progress under artificial selection cannot go on forever, of course. As noted earlier, the population will eventually reach a selection limit, or plateau, after which it will no longer respond to selection.

However, many experimental populations that have reached a selection limit readiliy respond to reverse selection.

Gianola et al. beschreiben 1979 in ihrer Arbeit RESPONSES TO SELECTION FOR BODY WEIGHT IN DESCENDANTS OF X-IRRADIATED RATS eines der vielen Beispiele für die Limitierung der Selektion in bestimmte Richtungen:

(p. 627:) In C lines [inbred strain, nonirradiated], there were no consistent responses to selection, probably due to a low level of genetic variability. In R rats [x-irradiated], selection was effective only for decreased body weight. The results of this experiment do not suggest the use of irradiation combined with selection as a means of enhancing responses to selection in animals.

(p. 629:) Complete records on 16, 690 rats were available for analysis (Table 1).

(p. 643:) The main conclusion of this study is that spermatogonial irradiation induced genetic variation for a metric trait in a stock of rats where the amount of initial genetic variability was low.

The induced variability remained in the stock even after 17 generations of discontinued irradiation and was usable by selection, but only in the downward direction. The present results do not point towards faster improvement in descendants of irradiated stock in the upward direction of selection.

Weiter wird hervorgehoben, dass Tierpopulationen, die auf extreme Phänotypen selektiert worden sind, eine Beeinträchtigung der Fortpflanzungsfähigkeit aufzuweisen hatten (Hinweis auf zahlreiche Autoren).

Es ließe sich vielleicht einwenden, dass die hier zitierte Rattenpopulation gemessen an der Zahl der Ratten weltweit ziemlich klein sei. Das ist sicher richtig. Man darf dabei jedoch nicht übersehen, dass die Mutationsrate dafür wesentlich erhöht war und dass der Trend eindeutig die bisherigen Ausführungen zur Mutagenese der Wild- und Haustiere bestätigt.

Darüber hinaus gibt es auch Untersuchungen an wesentlich umfangreicheren Populationen. So basieren die Daten von Schlager und Dickie (1967, 1971) zur Frage nach den spontanen Mutationsraten an Fellfarbenloci der Hausmaus auf 19 457 354 Gameten (zitiert nach Silvers 1979).

Bei Besprechung dieser Daten stellt Silvers p. 283 fest, dass die Gesamtrate der Spontanmutationen 11 x 10-6 per Locus per Gamet vom Wildtyp- zum mutierten Gen war und 2,5 x 10-6 vom rezessiven Allel zum dominanten (Rückmutationen), d.h. die 'Hin'-Mutationsrate ist für Punktmutationen der untersuchten Loci nur 4,44-fach höher als die Rückmutationsrate. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Mutationsraten an den verschiedenen Loci divergieren können. Außerdem können die Mutationsraten der gleichen Loci noch von Linie zu Linie abweichen, - eine Frage, die von Schlager und Dickie an Populationen von insgesamt 7 010 732 Mäusen untersucht wurde.

Sollten also in der oben zitierten Rattenpopulation noch rezessive Gene für erhöhtes Körpergewicht vorhanden, aber noch nicht rückmutiert sein, so könnte vielleicht bei größeren Populationen eine weitere Selektion in die 'Aufwärtsrichtung' noch möglich sein. Das würde allerdings noch hochspezifische Sequenzen bei den rezessiven Genen voraussetzen, Sequenzen die durch Punktmutationen funktionsuntaugliche Polypeptide kodieren und die durch eine oder wenige Basenaustausche wieder funktionsfähige Strukturen ermöglichen (echte Rückmutationen). Sind jedoch solche Loci durch Deletion und/oder wiederholten Punktmutationen stark degeneriert, dann sind auch Rückmutationen nicht mehr zu erwarten. Bei der globalen Degeneration der Organismenwelt, die wir aufgrund der Mutationshäufigkeit und 'Qualität' zu postulieren haben (s.o.), dürfte die allgemeine Rückmutationsrate geringer sein als oben angegeben und sich vor allem auf neumutierte geringfügig veränderte Allele beschränken.

Denn in größeren Zeiträumen wird die Degeneration zu rezessiven Allelen, deren Funktionsausfall zumindest unter bestimmten ökologischen Bedingungen neutral oder nur schwach nachteilig ist (Ohta 1976, Nei 1983, Ohno 1985), soweit fortgeschritten sein, dass Rückmutationen kaum mehr zu erwarten sind, zumal ein Teil der Genmutationen sowieso auf Deletionen beruht (vgl. z.B. Shukla und Auerbach 1981).

Die Wahrscheinlichkeit, dass funktionsfähige Sequenzen de novo entstehen könnten, ist von mehreren Autoren im Detail durchgerechnet worden: Solche Ereignisse sind derart unwahrscheinlich, dass man sie weder in großen Populationen noch in Millionen von Jahren erwarten kann (Heitler 1970, 1975; Zuammenfassung bei Lönnig 1976; Vollmert 1983, 1985).

Zur Veranschaulichung möchten wir ein Beispiel von Coppedge (1973, p. 52) zitieren. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand zufällig aus einer Box mit Unmengen von Einzelbuchstaben unseres Alphabets nur einmal die Sequenz "the theory of evolution" zieht?

All that is needed is simply to get those twenty-three letters and spaces inproper order, selecting them at random from the set of twenty-seven objects (twenty-six letters and one space). By the multiplication rule we learned, it will be 27 x 27 x 27... x 27 using the figure twenty-three times.

The probability when computed is 1 in approximately 834,390,000,000,000,000,000,000,000,000,000; that is one success in over 8 hundred million trillion trillion draws.

To get an idea of the size of that number, let us imagine that chance is employing an imaginary machine which will draw, record, and replace the letters at the speed of light, a BILLION draws PER SECOND! Working at that unbelievable rate, chance could spell "the theory of evolution" once in something over 26,000,000,000,000,000 years or the average!

...a child could do it in a few minutes. Chance would take more than five million times as long as the earth has existed (if we use the five-billion-year rounded figure which some evolutionists now estimate as the age of the earth).

Auf die genetische Ebene übertragen heißt das für eine Protein-kodierende Sequenz mittlerer Länge (p. 159):

With four kinds of nucleotides, and a chain 1,200 long, the total of possible arrangements would be 41200, which is approximately 10722.

The letters of a gene, however, are read in triplet codons (comprising sixty-four kinds of triplets) of which there are 400 in this size chain. If computed in this way, there would a total of 64400 possible orders, and this turns out to be the same as when figured by individual letters, namely 10722.

Natürlich müsste man hier noch berücksichtigen, dass etwa 20 % der Basenaustauschmutationen neutral sind und bei Enzymen außerhalb der aktiven Zentren ab und zu noch ein paar Aminosäuresubstitutionen mit meist geringer Beeinträchtigung des gesamtbiologischen Systems vertragen werden. Aber selbst wenn bis zu 50 % aller Sequenzen ungehindert variieren und degenerieren könnten, wäre die Wahrscheinlichkeit der zufälligen Bildung solcher Sequenzen immer noch so unvorstellbar gering, dass man auf jeder anderen Ebene des Lebens mit dem Eintreten solcher Ereignisse nicht mehr rechnen würde. 10361 z.B. wäre immer noch eine Größenordnung, die die geschätzte Zahl aller Atome im Universum (5 x 1078 bei der gegenwärtigen Annahme eines Radius von 15 Milliarden Lichtjahren und einer mittleren Dichte von 1 / 1030 Gramm pro cm3; - Details bei Coppedge p. 118) um das Viereinhalbfache übertreffen würde.

Tatsächlich liegt jedoch eine hierarchische Ordnung in den Möglichkeiten der Sequenzvariabilität vor, wie wir das oben schon mit den Worten Blixts u.a. ausgeführt haben. Bradbury et al. fassen 1981, pp. 12 und 14 einige Ergebnisse der Histonsequenzierung (H4: 102 Aminosäuren) wie folgt zusammen:

...histone sequences, particularly those of H3 and H4, are the most rigidly conserved of all proteins so far studied. The remarkable resistance of the histone sequences to change through the evolution of eukaryotes implies that each and every residue is essential for the biological functions of histones.

There are only two very conservative replacements between bovine (Bos taurus) and pea (Pisum sativum); valine 60 and lysine 77 in bovine H4 are replaced by isoleucine and arginine respectively in pea. In a conservative replacement a residue is replaced by another residue with very similar properties;...

Thus although the lines of evolution of peas and cows probably diverged 1.8 x 109 years ago their H4 sequences are virtually identical. A similar sequence conservation has also been found for histone H3;...

Solche Sequenzen haben sich trotz millionenfacher Genmutationen nach evolutionistischen Veraussetzungen auch in 1,8 Milliarden Jahren praktisch nicht verändert. Zahlreiche weitere Untersuchungen haben ähnlich konservative Sequenzen zutage gefördert (vgl. z.B. Cleveland et al. 1980, Friedman et al. 1982, Lakey 1985). Boyer et al. schreiben in ihrer Arbeit THE PROPORTION OF ALL POINT MUTATIONS WHICH ARE UNACCEPTABLE; AN ESTIMATE BASED ON HEMOGLOBIN AMINO ACID AND NUCLEOTIDE SEQUENCES (1978), dass mindestens 95 % aller Aminosäurensubstitutionen durch nichtsynonyme Mutationen im homozygoten Zustand beim Hbß funktionell nicht akzeptabel sind. Und das trifft praktisch auf alle Proteine mit lebensnotwendigen Funktionen im physiologischen Getriebe der Organismen zu (vgl. dazu z.B. die zusammenfassenden Darstellungen von Harns 1980, Vogel und Motulsky 1982).

Auf der anderen Seite wiederum gibt es solch stark variable Gensysteme wie für die Blüten-, Fell- und Federfarben, auf die die Organismen u.U. sogar ganz verzichten können. Hier kann durch schrittweisen Abbau bzw. Ausfall verschiedener Glieder des Systems eine riesige Variabilität erzeugt werden (vgl. z.B. p. 194). Der Aufbau eines solchen Systems setzt hingegen wiederum eine ganze Kette spezifischer Sequenzen als Minimum der Funktionsfähigkeit voraus.

Dass es sich bei den obigen Berechnungen tatsächlich um realistische Größenordnungen handelt, geht übrigens auch aus der Tatsache hervor, dass es keinem vernünftigen Biologen einfallen würde, die spezifischen DNA-Sequenzen zur Produktion von Somatostatin, Somatotropin, Insulin etc. in Escherichia coli durch Punkt- (oder sonstwelche) Mutationen aufzubauen (auch nicht unter optimalen Mutationsraten, Einsatz von Milliarden von Individuen, Tausenden von Generationen und schärfster Selektion). Selbst für die de novo Synthese des aus einer Sequenz von nur 42 Nukleotiden bestehenden Somatostatingens ist unter Abzug von 20 % Redundanz die Bildungswahrscheinlichkeit durch Punktmutationen nur 1 : 1,181 x 1021 (Promotor und Kontrollregionen, Start- und Stopsignale nicht mitgerechnet; beim Transfer für gentechnologische Zwecke wird das Somatostatingen an die Sequenz für die beta-Galaktosidase angehängt und das Genprodukt durch Bromcyan zur Freisetzung von aktivem Somatostatin in vitro gespalten; den Bedarf einmal unterstellt, könnte ein Bakterium mit diesem Genprodukt noch gar nichts anfangen). Das Somatostatin mit seinen 14 und das Insulin mit seinen 104 Aminosäuren sind jedoch noch relativ kleine Moleküle. Andere Polypeptide können bis zu 1000 Glieder umfassen und der größte Teil besteht aus mehreren hundert Aminosäuren. Selbst unter der unrealistischen Annahme, dass bis zu 30 % einer gewünschten Sequenz schon irgendwo im Bakteriengenom vorliegen würde und dann nur weiter ausgebaut werden bräuchte, wäre die Wahrscheinlichkeit - von vielleicht ganz seltenen Ausnahmen abgesehen - immer noch so gering, dass man sie für die notwendige Sequenzbildung durch Punktmutationen vergessen könnte.

Die Notwendigkeit gezielten Gentransfers mittels rekombinanter DNA-Technik zur Erzeugung pharmazeutisch interessanter u.a. Substanzen, deren Kodierung nicht im Bakteriengenom vorkommt, hebt gleichzeitig die Unwahrscheinlichkeit hervor, dass durch Punktmutationen solche spezifischen Sequenzen aufgebaut werden könnten.

Für die Seltenheit positiver Mutationen wird manchmal der Einwand erhoben, dass ja die "Erbsubstanz einer jeden Art ein durchexperimentiertes System von Informationsträgern vereinigt. Unvorstellbare zahllose Änderungsmöglichkeiten wurden im Laufe der Jahrmillionen probiert und verworfen. So besteht nur eine geringe Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein zufällig neuer Genzustand oder eine neue Genkombination dem Altbewährten überlegen sein kann" (Hadorn und Wehner 1974, p. 73).

Die Autoren übersehen dabei, dass diese Erklärung ja auch auf die Organismen zutrifft, die nach gängiger geologischer Zeitrechnung vor 100 oder 200 Millionen von Jahren gelebt haben sollen. Da vom Kambrium oder noch besser von der oben zitierten Trennung der Linien von Rind und Erbse vor 1,8 Milliarden Jahren an gerechnet die Organismen bereits genügend Zeit hatten, unvorstellbare zahllose Änderungsmöglichkeiten zu probieren und zu verwerfen, musste die Arten vor 100 oder 200 Millionen Jahren ebenfalls schon durchexperimentierte Systeme von Informationsträgern vereinigt haben, und der anschließende Satz von der geringen Wahrscheinlichkeit des Auftretens neuer Genzustände, die dem Altbewährten überlegen gewesen wären, gilt auch für diese. Wie ist unter diesen Voraussetzungen dann überhaupt noch eine Evolution in den letzten 200 Millionen Jahren möglich gewesen, nachdem in den vorausgegangenen 1,6 Milliarden Jahren große Zahlen von Änderungsmöglichkeiten durchprobiert worden waren?

Außerdem haben wir mit dem linearen Anstieg der Mutationsereignisse mit der Dosis des applizierten Mutagens eine Art Zeitraffer in der Hand. Aber auch bei Vertausendfachung der normalen Mutationsraten und allen nur denkbaren Selektionsmaßnahmen werden keine Artbarrieren überwunden.

Wenden wir uns wieder dem Thema Rückmutationen zu.

Die Frage nach der Frequenz von Rückmutationen und die Annahme, dass deren Rate bei geringfügig veränderten Allelen höher sein wird als bei starken Veränderungen einschließlich Deletionen, soll uns noch einmal auf das Phänomen des fast stereotypen Auftretens gleichartiger Mutanten in wiederholten Mutationsversuchen hinweisen. Zur Ergänzung seien die Berichte von Corpuz et al. und Kuckuck und Mudra zitiert. Die ersteren schreiben 1983, p. 41:

The entire range of protein variability in cultivated rice was produced in a single cultivar by treating seeds with ethyl methansulfonate (EMS) (Swaminathan 1969) or gamma rays (Tanaka and Takigi 1970). Gamma irradiation of 'Sonora 64' wheat produced 1 to 2% higher grain protein content in mutants, one of which became the commercial cultivar 'Sharbati Sonora' in India (Swaminathan 1969).

- Worauf die Autoren von einer mittleren Proteinzunahme ( - es geht bei dieser Studie nicht um die Qualität der Proteins) von 0,8 % - 2 % in einer Testperiode von 3 Jahren bei ihrem 'harten roten Winterweizen' durch Mutationszüchtung sprechen. Dass sich solche Züchtungsprogramme asymptotisch einem Limit nähern, haben wir oben schon hervorgehoben.

Kuckuck und Mudra geben ein Beispiel für die Variationserzeugung bei der Gerste (1950, p. 162):

Wie umfangreiche Versuche besonders bei Gerste gezeigt haben, können durch Röntgenbestrahlung wohl sämtliche Formen des Weltsortiments mutativ erzeugt werden...[Hinweis auf Übersicht in Tabelle 18]. Diese erzeugten Mutanten haben sich teilweise mit den gleichen Formen des Weltsortiments als genetisch identisch erwiesen. In anderen Fällen werden gleiche Phänotypen durch verschiedene Gene bedingt; es liegen dann sog. heterogene Merkmalsgruppen vor.

Ich möchte dieses Phänomen als REGEL DER REKURRENTEN VARIATION bezeichnen. Der Grund für diese Regel dürfte komplexer Natur sein:

Erstens spielen Rückmutationen bei Kulturpflanzen sicher eine Rolle. Da die meisten Kulturpflanzen im Vergleich zu den Wildformen relativ jung sind, könnte bei ihnen das Verhältnis von 4,4 'Hin'- zu 1 Rückmutation den realen Werten mancher Loci nahekommen.

Zweitens werden Transposons hier von besonderer Bedeutung sein (s.u.). Sie können die Mutationsprozesse ganz ungemein beschleunigen und uns auch wesentlich höhere Revertantenraten verständlich machen.

Drittens könnten intra- und intergene Suppressormutationen von Bedeutung sein. Sie heben den Funktionsausfall von rezessiven Allelen weitgehend wieder auf.

Viertens wäre bei der Frage nach der verstärkten Produktion von Zuckern, Stärken, Fetten und Eiweißen etc. an Genamplifikation zu denken.

Fünftens kann auch durch Regulatorgenausfall die Stoffproduktion erhöht werden.

Sechstens wird die vermehrte Synthese bestimmter Verbindungen durch Kompensation bei Funktionsausfall verwandter Synthesen erreicht.

 

Dass Funktionsbeeinträchtigung genetischer Strukturen in der Züchtungsforschung generell eine bedeutende Rolle spielt, geht aus der Tatsache hervor, dass ein großer Teil der züchterisch brauchbaren Allele in Relation zu den Wildtypen rezessiv ist. "In general, losses of function are recessive and gains (or selected-for modifications) of functions are dominant" - Fincham 1983, p. 350 (vgl. auch Watson und Kaudewitz, zitiert p. 123). Für das Pflanzenreich trifft diese Regel in der großen Mehrheit der Fälle zu, beim Menschen jedoch nur in etwas über einem Drittel der durch mendelnde Phänotypen identifizierten Loci (vgl. p. 338). Fincham weist darauf hin, dass die einfache Gleichung Rezessivität = Verlust und Dominanz = Gewinn zwar in gewissen Fällen wegen positiver und negativer Interaktionen der Allelprodukte auf der Polypeptid ebene ihre Ausnahmen findet, aber "im allgemeinen ist es eine gute Regel". Die Rezessivitätsregel trifft auf das Pflanzen- und Tierreich gleichermaßen zu, nicht aber die Dominanzregel. Zur hohen durch Funktionsausfall bedingten Dominanzrate bei Säugetieren und Vögeln siehe die Erklärung p. 134.

R. von Sengbusch unterstreicht mit einer Lebenserfahrung erfolgreicher Pflanzenzüchtung (Lupinen-, Roggen-, Tomaten-, Spargel-, Erdbeeren-, Zuckerrüben- und viele weitere neugezüchtete und angemeldete Sorten) die allgemeine Beobachtung bei Überführung einer Wildform in die Kulturform (1980, p. 13 und p. 155):

Diese Umwandlung von der Wildpflanze in eine Kulturpflanze ist im wesentlichen dadurch charakterisiert, dass die Eigenschaften der Wildform dominant und die der Kulturform rezessiv bedingt sind.

- Worauf das Lupinenbeispiel diskutiert wird (Verlust der Alkaloidproduktion). Siehe dazu weiter die Serie der Abbauerscheinungen in der Tabelle Simmonds, zitiert p. 356.

Kupzow bemerkt 1980, p. 73 zum Thema "Flower mutations":

The appearance of individuals with white flowers in species which in nature have coloured flowers is very well known in the process of domestication. Apparantly these white-flowered mutants are less viable than the initial forms with coloured flowers. Individuals with white flowers in the cultivated populations of Jacob's Ladder (Polemonium coeruleum L.) purple foxglove (Digitalis purpurea L.), oleander (Nerium oleander L.) and sundial lupin (Lupinus polyphyllus Lind.) have a lower chlorophyll content in their leaves, poorer respiratory enzyme activity (catalase and peroxidase), a slackening in the growth process and a decrease in the synthesis of physiologically active compounds (saponines, steroid glucosides, alkaloids). During tausaghyz domestication it was very characteristic that single gigantic individuals appeared, without sommer dormancy and which could grow during the entire summer in conditions of sufficient soil moisture; they were inevidently doomed in the natural area of this species in Kara Tau (Southern Kazakhstan) with an inclement summer drought.

Lamprecht schreibt zu seinen Domestikationsstudien bei der Erbse (Pisum sativum L.) 1974, p. 555:

Hier sei noch besonders hervorgehoben, dass bisher niemals eine wildwachsende, weißblütige Erbse, also der Kulturvarietät sativum angehörig, angetroffen worden ist; es sei denn als einzelne Mutante, die dann sogleich wieder ausgemerzt wird. Stets haben wildwachsende Erbsen, welchen Rassen sie auch angehören mögen, eine distinkte Blütenfarbe, mehr oder weniger dunkel Pupurviolett, Mattblau bis Bleifarben, Bräunlichrot, Ockergelb usw.

...Kein Zweifel scheint darüber bestehen zu können, dass die weißblütige Form im Mittelalter einmal durch Mutation des Grundgens A zum rezessiven a entstanden ist. Dominanz in A ist bei Pisum die Bedingung für jede Ausbildung von Anthocyan also nicht nur in der Blüte, sondern auch in Samen, Hülsen, Blütenstielen usw. Mit a sind die Blüten daher reinweiß.

...[Weißblütige Sorten] haben einen milderen und angenehmeren Geschmack als die von A-Sorten.

Und auf der Seite 558 fährt er nach detaillierter Aufführung von 6 rezessiven Genen bei Kulturerbsen fort:

Wo wären wir heute in der Züchtung und im genetischen Studium der Erbse, ohne dass uns diese oben erwähnten rezessiv bedingten Merkmale zur Verfügung gestanden hätten? Es gäbe keine weißblütigen und keine niedrigen Erbsen, keine Mark- und keine Zuckererbsen, keine Dolden- und keine Brecherbsen. Alles was wir nach der Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze durch planmäßige Kombinationskreuzungen hätten erreichen können, wäre ein sehr kümmerliches Ergebnis geblieben. Über die, allerdings kochbaren, Futtererbsen wäre nicht hinauszukommen gewesen.

Diese Beispiele mögen zur Veranschaulichung des genetischen Strukturabbauprinzips in der Pflanzenzucht erst einmal genügen.

Solche Beispiele (samt Rückmutationen) erklären uns einen vielleicht schon beachtlichen Teil der immer wieder festgestellten rekurrenten Variation der Mutationsforschung.

Zur von Kupzow und Lamprecht zitierten Weißblütigkeit vieler Kulturformen in Kontrast zu den farbigen Stammlinien sei noch einmal (vgl. p. 123) angemerkt, dass auch viele Beispiele von farbigen und weißblütigen Wildarten in der Natur vorkommen (manchmal sogar nebeneinander), so dass der Strukturabbau im Anthozyansystem bei diesen Arten auch bei Wildformen - wahrscheinlich aufgrund unterschiedlicher Pleiotropiespektren - noch verkraftet wird (zum Abbau bei Wilderbsen, jedoch nie bis zum völligen Funktionsausfall des Anthozyansystems, vgl. p. 193/194).

Weiter ist vermehrte Stoffproduktion durch Funktionsausfall in Regulator- u.a. Genen wiederholt beschrieben worden.

Das Prinzip leuchtet sofort ein, wenn man sich klar macht, dass der größte Teil der genetischen Information normalerweise reprimiert ist. Funktioniert die Regulation an verschiedenen Stellen des Genoms nicht mehr, so kann es u.a. zu einer Überproduktion bestimmter Verbindungen kommen. In der Regel ist das für den betroffenen Organismus nachteilig, wie z.B. bei der Zunahme der N-Acetylglucosamin: Galactosyltransferaseaktivität über den Wildtyp durch Ausfall eines Wildtyp-Galactosyltransferase-Inhibitors bei der Maus (Segregation-distortion) (Shur 1981) oder der Melanombildung bei Xiphophorus (Ahuja et al. 1980). Das Prinzip erklärt uns auch die p. 336 zitierte Erhöhung der Enzymaktivität.

Ein anderes Beispiel ist die Regulation des Lactose-Operons bei Escherichia coli: Ist das Regulatorgen durch Mutation so verändert, dass sein Repressorprotein nicht mehr an den Operator bindet, so wird die Synthese der Enzyme beta-Galactosidase, Galactosidtransferase und Transacetylase der Strukturgene z, y und a auch in Abwesenheit von Lactose ununterbrochen fortgesetzt. Dasgleiche geschieht bei Funktionsausfall des Operatorgens. Umgekehrt gibt es Mutationen, durch welche der Repressor derart verändert wird, dass der Effektor ihn nicht mehr vom Operatorgen lösen kann. Folge: Totalausfall der Enzymbildung. Für das Bakterium sind beide Fälle negativ. Wird jedoch durch Überproduktion bestimmter Verbindungen wie Kohlenhydrate, Fette, Eiweiße, Vitamine u.a. in den Früchten von Pflanzen mehr Material eingelagert, so kann das für den Menschen interessant sein.

Wenn sich das Operonmodell auch nicht auf die Eukaryonten übertragen lässt, so ist dennoch klar, dass die Repression und Derepression von Strukturgenen auch in diesen Organismen geregelt werden muss, wenn es nicht zum Zusammenbruch des Gesamtsystems kommen soll. Bei der Frage nach der Regulation der Regulatorgene haben wir schon einige Beispiele für die letzteren bei Eukaryonten aufgeführt. Weitere Fälle z.B. bei Di Fonzo et al. 1980, Salamini et al. 1982, Dooner 1983.

In der Pflanze- und Tierzucht spielt übrigens das Hormonsystem eine Schlüsselrolle.

Wie allgemein bekannt, können bei Menschen und Tieren schon geringste Veränderungen im feinstens ausbalancierten Hormonsystem große Wirkungen in der Wachstumsgeschwindigkeit, im Knochenbau, in der Stoffeinlagerung etc. hervorrufen. Ausfall der Somatostatinbildung führt zu Zwergwuchs, Überproduktion kann zu Riesenwuchs führen, Unterfunktion der Schilddrüse bewirkt vermehrte Fetteinlagerung im Unterhautgewebe, Überfunktion Abmagerung etc.

Für das Pflanzenreich ist besonders in den letzten Jahren die Bedeutung von Hormonen durch zahlreiche Studien genauso belegt worden (Köhler 1979, MacMillan, ed., 1980; Scott, ed., 1984; Pharis und Reid, eds., 1985 u.v.a.).

Weiter könnten Regulatorgene z.B. beim Wechsel von der Zwei- zur Sechszeiligkeit (und umgekehrt) bei der Gerste eine Rolle spielen. Sechszeilige Gersten sind als monofaktoriell bedingte Phänotypen in zweizeiligen Kultursorten immer wieder aufgetreten (monofaktorielle unvollständige Dominanz der zweizeiligen Gersten).

Gymer gibt 1978, p. 45 folgende Geno- und Phänotypen an:

Phänotyp

Genotyp

 

 

Sessile six-row

vv II

Pedicelled six-row

vv ii

Normal two-row

VV ii

Intermediate (staminate-lateralled two-row)

VV II

Statt Zehntausender Mikromutationen zur Entwicklung eines stark abweichenden neuen lebensfähigen Phänotyps (wie sich die Synthetische Evolutionstheorie das bis heute meist vorstellt - vgl. z.B. Ridley 1985, Hollenbeck 1985, Lorenzen 1985 u.v.a.) finden wir die Mutation in einem oder zwei Regulatorgenen mit einem für die Züchtung brauchbaren Ergebnis. Dasselbe Prinzip findet sich übrigens bei vielen weiteren Pflanzen wie der Erbse, Bohne und der Rose. Bei allen dreien kann zum Beispiel die Kletterfähigkeit mit dem Funktionsausfall eines einzigen dominanten Gens verloren gehen (Lata 1980, p. 333; Lamprecht 1966). Sehen wir uns bei der Erbse die eindrucksvollen Beispiele für durch einzelne rezessive Gene bedingten großen Schritte in der Abwandlung des Phänotyps näher an: statt Ranken bildet die Erbsenmutante acacia weitere Fiederblätter (Verlust der Fähigkeit, Ranken zu bilden) und das Gen afila bewirkt den Verlust der Fiederblattbildung, so dass - von den Stipeln abgesehen - nur noch Ranken gebildet werden. Führt man durch Rekombination die beiden Gene zusammen, erhält man die Rekombinante "pleiofila", die in ihrem Habitus völlig verändert ist. "Das Blatt ist extrem gegliedert und besitzt im gut ausgebildeten Zustand etwa 500 kleine Fiedern" (Gottschalk 1978/1984 p. 259; dort weitere Beispiele). Die folgende Abbildung möchte das veranschaulichen:

Abb. 52: Blattmutanten der Erbse. Links: acacia-Mutante mit Fiedern anstelle der Ranken. Mitte: afila-Mutante mit verzweigten Ranken anstelle der Fiedern. Rechts: extrem aufgegliedertes Blatt der Rekombinante acacia/afila. Aus Gottschalk 1978/1984.

Der Ausfall von vermutlich zwei Regulatorgenen kann zu so starken Phänotypabweichungen führen, dass man in Unkenntnis des wahren Sachverhalts nach neodarwinistischen Voraussetzungen Tausende von Mikromutationen fordern müsste, die in kontinuierlichen Übergangsserien die Entwicklung von einem Phänotyp zum anderen bewirkt hätten. Und doch handelt es sich nur um zwei Mutationsschritte! Mit einem dritten Mutationsschritt kann man dann noch die Nebenblätter auf die cochleata-Form reduzieren (recht kleine löffelförmige Blättchen) (Rekombinante acacia/ afila/ cochleata). Nach der schon wiederholt zitierten Regel, dass Funktionsverlust mit Rezessivität einhergeht (pp. 123, 334, 363), handelt es sich auch bei den vorliegenden Beispielen um Verlust genetischer Information: Bei Kreuzung solch phänotypisch stark abweichender Rekombinanten mit der Normalform der Erbse ist in der F1 nichts mehr von der Formdivergenz zu erkennen: alle drei Gene (wie auch die meisten anderen durch Mutation erhaltenen Allele) sind vollständig rezessiv und treten erst bei Homozygotie in der F2 wieder in Erscheinung.

Das afila-Merkmal hat sich übrigens als züchterisch brauchbar erwiesen (größere Standfestigkeit in Monokultur durch vermehrte Rankenbildung) und wird im Feldanbau zunehmend eingesetzt.

Broda hat 1979 beim Klee 4 - 7 blättrige Linien beschrieben, deren ungewöhnliche Blattzahl ebenfalls durch verschiedene rezessive Gene bedingt ist.

Ich möchte bei allen diesen Beispielen wieder betonen, dass zwar manche evolutionistische Hoffnungen geäußert worden sind, dass aber in keinem Falle die Bildung neuer Arten vorliegt. "Neue Arten sind experimentell weder durch die schrittweise Anhäufung von Genmutationen noch durch die Induzierung einzelner progressiver Mutationen hergestellt worden. Hier liegt für die experimentelle Evolutionsforschung ein weites faszinierendes Arbeitsfeld" (Gottschalk 1978/1984, p. 289). Das bedeutet, dass rund 60 Jahre intensivster Mutationsforschung mit Zehntausenden von Einzeluntersuchungen kein brauchbares Ergebnis für die Artbildungstheorien gebracht haben. Meines Wissens glaubt heute kein Biologe mehr daran, mit richtungslosen Punktmutationen noch neue Arten induzieren zu können.

Neben zahlreichen fundamentalen Erkenntnissen in der genetischen Grundlagenforschung bis hin zum Krebsproblem hat uns die Mutationsforschung jedoch ein größeres Verständnis für die Variationsmöglichkeiten innerhalb der Arten vermittelt. So kann z.B. genetischer Strukturabbau in wenigen Schritten zu stark von den Ausgangsformen abweichenden Phänotypen führen, was u.a. an die oben (p. 200) besprochenen Beispiele erinnert.

Obwohl hier anzumerken ist, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen Rekombinanten einer Art in der Natur häufig polygen bedingt sind, sei doch auch auf die vielen Beispiele monogener Unterschiede hingewiesen (Zusammenfassung bei Hilu 1983).

Triantaphyllidis und Richardson heben bei ihrer Diskussion der Hawaiischen Drosophila-'Arten' (1982, p. 229) hervor, dass die Speziesunterschiede auf Änderungen "in a few regulatory systems" beruhen könnten. "This may happen by point mutations...which could affect regulatory genes."

Weiter ist in diesem Zusammenhang interessant, dass durch Applikation mutagener Agenzien offensichtlich auch mit einem Schlag polygene Unterschiede entstehen können (Gottschalk 1964, 1975, 1981; Lönnig 1985).

Wir haben überdies im Detail schon diskutiert, dass die meisten Merkmale polygen bedingt sind (z.B. p. 193). Wenn also für Organismen bestimmte Strukturausfälle neutral oder nur schwach nachteilig sind, dann kann auch das ganze dafür zuständige Gensystem bis zu einem gewissen Grade degenerieren, d.h. dass durch Häufung von Mutationen der Strukturausfall mit der Zeit polygen werden muss.

Für die Dominanz und Rezessivität von Genen hat es meines Wissens nur einen von der obigen Regel abweichenden, generellen Erklärungsversuch gegeben. In Anbetracht von Batesons Presence-Absense-Hypothese (die im Prinzip mit der oben zitierten und molekularbiologisch vielfach abgesicherten Erklärung übereinstimmt, aber für darwinistische Ansätze unbrauchbar ist) hat Fisher 1922 und 1930 seine vieldiskutierte selektionistische Modifier-Hypothese aufgebaut.

Kacser und Burns schreiben zu dieser Frage in ihrem Beitrag THE MOLECULAR BASIS OF DOMINANCE (1981, pp. 639 - 666) u.a.:

Because the vast majority of mutants are recessive, he [Fisher] postulated "modifiers" at other loci acting on the expression of the heterozygote. This would make its phenotype, which was assumed to be intermediate when it first arose, approach the wild type, which, by definition, is the fittest phenotype. His view has generated even to this day (e.g., Charlesworth and Charlesworth 1979; Caligari and Mather 1980) a large body of literature.

Nach detaillierter Aufführung und Diskussion der biochemisch-mathematischen Aspekte dieser Frage kommen die Autoren zu folgendem Ergebnis:

(p. 664:) The observation of almost universal recessivity of Mendelian mutants, far from constituting a problem requiring an evolutionary explanation, is seen to be a necessary consequence of the interactions inherent in the kinetic organization of enzyme systems. In fact, if mutant recessivity were not general, it would throw considerable doubt on the whole of enzymology and the study of intermediary metabolism. Dominance modification and general epistasis, in turn, are seen to arise from the same interactive properties of enzyme systems. The "modifier loci" are simply all the other loci controlling enzymes in the pathways, rather than loci whose sole function in Fisher's model, is to affect the expression of the heterozygote phenotype. This eliminates a vast class of genes required by Fisher's scheme and removes the conflict with realistic estimates of the number of loci in organisms.

Und p. 639 fassen sie zusammen:

In vivo enzymes do not act in isolation, but are kinetically linked to other enzymes via their substrates and products. These interactions modify the effect of enzyme variation on the phenotype, depending on the nature and quantity of the other enzymes present.

...The widespread occurrence of recessive mutants is thus seen to be the inevitable consequence of the kinetic structure of enzyme networks. The ad hoc hypothesis of "modifiers" selected to maximize the fitness of the heterozygote, as proposed by Fisher, is therefore unnecessary. It is based on the false general expectation of an intermediate phenotype in the heterozygote. Wright's analysis, substantially sound in its approach, proposed selection of a "safety factor" in enzyme activity. The derivation of the summation property explains why such safety factors are automatically present in almost all enzymes without selection.

Kimura kommentiert Fishers Dominanztheorie 1983, p. 9:

It now appears that Fisher's theory of dominance is either untenable or at best holds only for special cases.

...the wild type allele usually produces a useful substance which recessive mutants lack the ability to produce or produce in lesser amount. The wild type genes are selected in the course of evolution for ability to produce useful substances with a sufficient margin of safety to withstand external and internal disturbances; dominance follows automatically.

Fishers Hypothese erübrigt sich mit den biologischen Tatsachen.

In diesem Zusammenhang möchten wir uns noch kurz mit der vor allem von Bateson durchgearbeiteten Presence-Absense-Hypothese beschäftigen. Baur schrieb zu diesem Punkt (1911, p. 99):

Dieser Gedanke, daß die mendelnden Erbeinheiten sich ohne Zwang so formulieren lassen, daß sie das "Vorhandensein einer bestimmten Fähigkeit" bedeuten und daß die mendelnden Unterschiede zwischen verschiedenen Sippen sich auf das Vorhandensein "presence" oder das Fehlen "absence" von Erbeinheiten zurückführen lassen, ist zuerst von CORRENS geäußert worden. Er ist dann aber in allen seinen Konsequenzen besonders von BATESON und SHULL durchgearbeitet worden. Man spricht heute als von der "Presence and Absence-Theorie". Mit dieser Theorie arbeitet die große Mehrheit aller "Mendelianer".

(p. 100:) ...Es ist natürlich möglich, daß unsere Unterscheidung von positiven und negativen Faktoren und unsere ganze Vorstellung, daß immer "presence" oder "absence" vorliege falsch ist, vorläufig ist es jedenfalls die Vorstellung, welche weitaus am besten den Tatsachen gerecht wird.

Es ist verständlich, dass dieser Ansatz bei den Darwinisten im allgemeinen wenig Anklang fand; denn wie sollte die postulierte kontinuierliche Evolution unter diesen Voraussetzungen möglich gewesen sein?

Auerbach bemerkt zu dieser Frage 1976, p. 3:

Bateson put forward the presence-absence theory, according to which all mutations are due to losses of normal genes. Although it is obvious that evolution cannot have been due to a succession of loss mutations, refutation of the presence-absence theory by experiment was extraordinarily difficult. The two main observations that contradicted it, multiple alleles and reverse mutations, could be fitted into the theory by additional assumptions. Conclusive evidence against the theory has been obtained only recently through analysis at the molecular level.

Die Theorie, dass immer Presence oder Absence der ganzen Gen-Sequenz (wie wir heute sagen würden) bei den mendelnden Faktoren vorliegt, ist formal widerlegt. Die DNA-Sequenz eines Gens kann noch voll vorhanden sein, aber durch Transposons in der Promotor-(oder anderen)Region(en) in ihrer Funktion beeinträchtigt oder voll blockiert sein. Die DNA-Sequenz kann auch noch zu 99 % vorhanden, aber durch Punktmutationen soweit verändert sein, dass keine funktionsfähigen Proteine gebildet werden können (vgl. z.B. Sobvyov und Kolchanov 1982). Mutationen, die nicht das aktive Zentrum eines Enzyms betreffen, können in ihrer Funktion gemindert, aber noch brauchbar sein usw.

Genau genommem meint Batesons Absence Hypothese ausschließlich Deletionen über die volle DNA-Sequenz eines Gens. Die gibt es allerdings auch en masse, so dass zumindest für alle diese Fälle Batesons Ansatz völlig richtig ist. (Vgl. z.B. Wright et al. 1981).

Nach Freeman und Lundelius (1982) beruht das bekannte Prädeterminationsbeispiel der Schalen-Windungsrichtung von Limnaea auf dem Presence-Absense-Prinzip.

Shukla und Auerbach kommen in ihrer Arbeit von 1981 zu dem Ergebnis, dass mindestens 66 % der EMS-induzierten Punktmutationen bei Drosophila kleine Deletionen sind (allerdings sind bislang keine Sequenzierungen gemacht worden, so dass die Frage nach der genauen Länge der Deletionen offen ist).

Fasst man den Ansatz von Correns und Bateson aber etwas weiter in dem schon von Baur (s.o.) angedeuteten Sinne des Vorhandensein, der Beeinträchtigung oder des Fehlens bestimmter Fähigkeiten, als Funktionsfähigkeit oder Funktionsverlust (mit hin und wieder mehreren Übergangsstufen) auf molekulargenetisch-enzymatischer und regulativer Ebene, - dann hat sich allerdings dieser Ansatz weitgehend als richtig erwiesen.

Neuffer und Sheridan haben (1980) nach EMS-Behandlung von Maispollen ein Verhältnis von 261 rezessiven zu 1 dominanten Mutante festgestellt. Das liegt allerdings weit ab von dem obigen Ergebnis von 4,44 'Hin'- zu 1 Rückmutante. Sollte EMS aber tatsächlich vor allem Deletionen verursachen, dann ist auch kein anderes Ergebnis zu erwarten. Röntgen- und Neutronenstrahlen scheinen jedoch nach vielen Untersuchungen an der Erbse eine wesentlich höhere Rückmutationsrate zu verursachen (so sind z.B. die hohen Linien dominant über die niedrigen - vgl. z.B. Gottschalk 1964, 1983; Blixt und Gottschalk 1975; Lönnig 1980, 1982, 1985).

Selbstverständlich kann die Evolution nicht auf eine Folge von Verlustmutationen zurückgeführt werden. Die Freunde der Synthetischen Evolutionstheorie stehen jedoch mit diesen molekularbiologischen Tatsachen vor prinzipiell dengleichen Problemen wie ihre darwinistischen Kollegen vor rund 80 Jahren.

Hier bietet sich ein Vergleich zur Situation in der Paläontologie an. Raup bemerkt (1981, p. 289) zum Thema EVOLUTION AND THE FOSSIL RECORD:

...there is probably some wishful thinking involved. In the years after Darwin, his advocates hoped to find predictable progressions. In general, these have not been found - yet the optimism has died hard, and some pure fantasy has crept into textbooks.

Kommen wir auf die Regel der Rekurrenten Variation zurück.

Diese aus Zehntausenden von Einzelarbeiten und -befunden abzuleitende Regel zeigt uns weiter, dass die Mutationen insofern nicht zufällig sind als die Möglichkeiten der Mutantenbildung primär durch die gesamtgenetische Konstitution der Linien und Arten (und sekundär durch die mutagenen Agenzien) gleichsam vorgezeichnet sind. Die oben beschriebene asymptotische Näherung an Grenzwerte bestätigt diesen Gedanken. Allerdings kann beim Einsatz mutagener Agenzien nicht vorausgesagt werden, welches Gen zu welchem Zeitpunkt zu welchem Allel mutiert. Erst bei großen Zahlen werden statistische Voraussagen möglich. Man kann dieses Phänomen in Analogie zur Heisenbergschen Unsicherheitsrelation sehen und vielleicht als mutationsgenetische Unsicherheitsrelation bezeichen. Bei der Behandlung der Chromosomenmutationen (p. 166) sind wir diesem Phänomen schon auf chromosomaler Ebene begegnet.

Nach Hinweis auf Jordans Anwendung der Quantentheorie auf den Mutationsprozess, schrieb Nilsson schon 1953, p. 1151, zur spontanen Mutabilität:

A statistical instability of the constitution of the gene should, then, be the cause of the phenomenon. The explanation is very probably correct, and this would also explain the fact that when a mutating organism has been observed for some considerable time - e.g. Oenothera Lamarckiana for more than 56 years - a strong impression of the regularity of the phenomenon is obtained.

A further unavoidable conclusion of this explanation is that the mutability is just as old as the gene, because an instability can hardly appear suddenly. The apparently new mutations are not new: they are truly immemorial, as old as the mother species itself; they have appeared many times in the history of the species but have disappeared again. For the believers in evolution this is hardly a palatable ending to the once great hope of observing the creation of new species in our days and under our own eyes. (Hervorhebungen im Schriftbild im Original gesperrt.)

Neben der für die Punktmutationen grundsätzlich richtigen Aussage, dass die Instabilität der Gene immer schon gegeben war, sei jedoch an die p. 346 erwähnte Beschränkung der Mutationsraten durch Repairsysteme erinnert und an die Retrovirenverwandtschaft bestimmter Transposons (pp. 141, 462). Aber davon konnte Nilsson noch nichts wissen.

Was durch mutagene Agenzien erreicht wird, ist die (im wesentlichen) linear mit der Dosis der Mutagene einhergehende Beschleunigung in der Auslösung des potentiellen Mutantenspektrums.

Wie lassen sich mit diesem Bild der rekurrenten Variation und des Strukturabbaus Phänomene wie die mutationsbedingte Resistenz, die Heterosis und der Industriemelanismus vereinbaren?

 

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NACHTRAG ZU S. 363

MUTANTENTYPEN DER GERSTE NACH U. LUNDQVIST 1988

A. MUTANTS WITH CHANGES IN THE SPIKE AND SPIKELETS

(1) Erectoides or dense spike. (2) Laxatum or reduced spike density. (3) Hexastichon or six-row. (4) Intermedium. (5) Irregular spikes. (6) Double seeds in the tip. (7) Calcaroides. (8) Bracteatum. (9) Semibracteatum. (10) Macrolepis or lemmalike glumes. (11) Extra floret. - (12) Accordeonrachis. (13) Short spike. (14) Long spike. (15) Opposite spikelets. - (16) Semideficiens. (17) Deficiens. (18) Acute lemma. (19) Large laterals. (20) Many glumes on the laterals. (21) Prolongated glumes. (22) Curly laterals. (23) Triaristatum or triple awned lemma. - (24) Sterile spiketip.

B. CHANGES IN CULM LENGTH AND CULM COMPOSITION

(25) Strawstiff. (26) Upright. (27) Short culm or semi-dwarf. (28) Dwarf. (29) Densinodosum. (30) Bikini. (31) Long culm. (32) Uniculm. (33) Weak straw. (34) Bent spike. (35) Bent culm. (36) Bent basal internode. (37) Brittle culm and spike. (38) Long basal rachis internode. (39) Gigas or gigas plants (diploid).

C. CHANGES IN GROWING TYPES

(40) Rapid growth. (41) Prostrate type. (42) Onion plant. (43) Irregular tillers. (44) Viviparoides.

D. PHYSIOLOGICAL MUTANTS

(45) Praematurum or early maturity. (46) Late maturity. (47) Eceriferum. (48) Rich in wax coating.

E. CHANGES IN AWNS

(49) Breviaristatum or short awns. (50) Dearistatum or dehiscent awns. (51) Long awns. (52) Smooth awns. (53) Undulated awns. (54) Wilting awns. (55) Soft awns. (56) Yellowing awns.

F. CHANGES IN SEED SIZE AND SHAPE

(57) Globosum or globe-shaped grains. (58) Small seeds. (59) Large seeds. (60) Long-shaped grains. (61) Semi-naked caryopsis.

G. CHANGES IN LEAF BLADES

(62) Narrow leaf. (63) Broad leaf. (64) Scirpoides. (65) Undulated leaf blade. (66) Rolled leaf blade. (67) Wilting leaf blade. (68) Yellowing leaf blade. (69) Spotted leaf blade. (70) Exauriculum or auricleless. (71) Eligulum or liguleless. (72) Crenatum. (73) Small flagleaf blade. (74) Lost upper auricle. (75) Changed position leaf blade.

H. CHANGES IN ANTHOCYANIN AND COLOUR

(76) Exrubrum or anthocyaninless. (77) Anthocyanin rich. (78) Purple awns. (79) Purple stem. (80) Purple seeds. (81) Purple seeds and awns. (82) Eburatum or albino lemma. (83) Robiginosum or orange lemma. (84) Flavum or yellow lemma. (85) Orange necrosis. (86) Bright green. (87) Darkgreen leaf blade. (88) Necroticans or necrotic leaf blade. (89) Necrotic leaf sheath. (90) Redbrown seeds. (91) Necrotic awn and leaf blade. (92) Melanoticans. (93) Lightgreen flag leaf blade.

Viele dieser Mutanten sind über 100mal und manche sogar über 1000mal aufgetreten. Die Regel der Rekurrenten Variation wird zum Gesetz.

 

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NACHTRAG ZU S. 363 ("GAINS OF FUNCTIONS...ARE DOMINANT")

In der genetischen Literatur trifft man in letzter Zeit in vermehrtem Maße auf den Begriff der "gain-of-function" Mutation (review vgl. z.B. J. Hodgkin 1993 in TIG 9, 1 - 2). Der Begriff kann nach meinen Gesprächen mit Evolutionstheoretikern zu folgender Verwirrung führen: Wenn die rezessiven "loss-of-function mutations" definitionsgemäß Informationsverlust und Funktionsreduktion bis hin zum völligen Funktionsausfall von Genen bedeuten, dann beinhalten die dominanten "gain-of-function mutations" den evolutionstheoretisch postulierten Aufbau von Information und Funktion (und letztlich die Bildung neuer Genfunktionen und Gene). Aber genau darum handelt es sich bei den "gain-of-function mutations" nicht! Ich selbst habe bei meinen Antirrhinum-Studien mehrere "gain-of-function" Mutanten gefunden und solche Mutanten sind ebenso bei anderen Organismen wie Mais und Drosophila beschrieben worden. Es handelt sich dabei um die ectopische Expression bereits vollständig vorhandener funktionsfähiger Gene, die zur Beeinträchtigung von Funktionen auf der organismischen Ebene führt. Ein Musterbeispiel dafür sind unsere Macho-Mutanten bei Antirrhinum. Hier wird ein für die Blütendifferenzierung zuständiges Gen (plena), das normalerweise nur bei der Bildung von Androeceum und Gynoeceum aktiv ist, in der ganzen Pflanze exprimiert, was u.a. dazu führt, dass anstelle der Kelch- und Blütenblätter Strukturen gebildet werden, die Frucht- und Staubblättern ähneln. Es handelt sich hier um Funktionsgewinn aus "der Sicht des Gens" (es wird jetzt überall in der Pflanze exprimiert), aber um Funktionsverlust für den Organismus! Die ectopische Expression selbst beruht auf einer Genregulationsstörung (die ebenfalls eine Form von Funktionsverlust beinhaltet). In einer Diskussion der beiden Ebenen (Gen- und Artebene) habe ich folgende Erklärung gegeben:

"The gain of function for the plena gene in the Macho mutants - now expressed not only in the two inner flower whorls, but also in the two outer whorls and even the whole plant - is clearly a loss of function at the species level: Organ identity is lost in the outer flower whorls, so that normal sepals and petals are missing. Thus, this gain-of-function mutation for the individual gene means a loss of differentiation and function for the biological system as a whole: almost from the beginning of their differentiation the carpelloid sepals are shorter than normal and never close as tightly as the wildtype sepals, thus sheltering functions for the inner flower whorls are lowered. The staminoid petals have lost both their protecting functions for the male and female organs as well as their function to attract insect visitors - a prerequisite for some facultative outbreeders to guarentee full seed set and for obligate outbreeders to have any progeny at all (both occur on Antirrhinum)." Lit.: Bradley et al. 1993, Cell 72, 85 - 95. Lönnig et al. 1993, Mol. Gen. Genet. (submitted ).

In diesem Zusammenhang sei noch einmal an die folgende Adresse erinnert:
Mutationen: Das Gesetz der Rekurrenten Variation (2001)


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