Wird die Aussage, "dass der Species feste Grenzen gesteckt sind", durch horizontalen Gentransfer widerlegt?
Auszüge aus der Diskussion mit Herrn Dr.A. (Briefwechsel vom 10.2. 1996 und vom 20.4.1996).
(Herr Dr.A. begründet sein Evolutionskonzept u. a. mit folgenden Argumenten:)
"Die Möglichkeiten für die Kombination der Gene der Lebewesen (die nicht nur innerhalb der Population "diffundieren", sondern durch Viren auch zwischen den Populationen) sind so riesig groß, daß jede neue Existenzmöglichkeit ausgenutzt wird. Deshalb können sich auch Pflanzen und Insekten aneinander sehr perfekt anpassen. Ich habe schon in einem früheren Brief Sie an die Arbeiten von Tschetverikow erinnert, der die Evolutionsgesetze mit den Gasgesetzen verglichen hat. Wenn im Fußball ein geringstes Loch entstanden ist, finden die Luftmoleküle mit der Zeit dieses Loch unbedingt."
In meiner Artbegriffsarbeit habe ich diese Frage wie folgt behandelt: Mehrere Autoren haben mit dem Gedanken des horizontalen Gentransfers durch Transposons starke evolutionstheoretische Erwartungen verbunden. Syvanen (1984) sieht in einem solchem Transfer einen Makromutationsmechanismus, der die Saltationstheorie direkt unterstützt. Mourant hat schon 1971 das Kambriumproblem mit Hilfe von Gentransfer durch Viren lösen wollen. Andere Biologen lehnen den ganzen Ansatz ab.
Beim Thema Genduplikationen hatte ich Goldschmidts Frage zitiert, wie ein Gen aus einer Verbindung mit aufeinanderfolgenden Schritten eines Synthesevorgangs herausgelöst werden kann, um schließlich eine vollständig neue Reaktionskette zu katalysieren (bzw. Glied einer neuen noch aufzubauenden Genwirkkette zu werden) etc. (vgl. p.420). Es wurde gezeigt, daß Genduplikationen das Problem nicht lösen können, weil in vielen Fällen erst mit dem Endprodukt eines aus vielen Einzelschritten bestehenden Synthesevorgangs unter genauer zeitlicher und räumlicher Genexpression durch entsprechende Regulationssysteme etwas gewonnen wäre (pp. 233/236). (Auch müßten die einzelnen aus verschiedenen Synthesevorgängen herausgelösten Gene in Struktur und Funktion schließlich genau aufeinander abgestimmt sein, um nun ihrerseits einen neuen Synthesevorgang zu ermöglichen.)
Diese Einwände treffen im Prinzip auch auf die Hypothese des Gentransfers durch Retroviren bzw. Transposons zu. Es würde beispielsweise einer Blattlaus wenig nützen, wenn sie durch Retrovireninfektion das Calcone-Synthase-Gen von Antirrhinum (dem Löwenmäulchen) erhielte. Die Retroviren müßten nicht nur diese DNA-Sequenz zur Gewährleistung ihrer prospektiven Funktion im wesentlichen unverändert übertragen (was schon unwahrscheinlich genug ist), sondern eine ganze Wirkkette, bestehend aus 8 (oder mehr) im Genom der 'Spender-Art' verteilten für die Anthozyanbildung notwendigen Genen samt deren Promotoren. Da aber eine Expression von Anthozyan z.B in den Facettenaugen einer Blattlaus ein nicht zu übersehender Störfaktor wäre (falls es überhaupt zur Anthozyanbildung kommt), bedarf es auch eines Regulatorsystems zum biologisch sinnvollen Einsatz des neuen Syntheseprodukts. Dieses Regulatorsystem kann die Laus aber nicht mehr vom bisherigen Genspender erhalten, da dessen Regulatorgene in Wechselwirkung mit dem arteigenen Plasma für die Anthozyanbildung vor allem in der Blüte zuständig sind und somit das Regulatorsystem grundsätzlich nicht mehr sinnvoll übertragen werden kann. Für die Entwicklung eines eigenen Regulatorsystems gelten dafür die p. 359f. zitierten (Un-)Wahrscheinlichkeiten, wobei eine meiotisch-plasmatische Regulation noch gar nicht mit einbezogen ist (vgl. pp.210-270). Aber was nützte z. B. die Bildung von Rhodopsin im Kambium einer Kastanie oder das Photosynthese-System in der Magenschleimhaut eines Elephanten oder der Aufbau von Chitin bei der Spindelbildung der Mitose?
Für Probleme wie das sprunghafte Auftreten fast aller Tierstämme im Kambrium sind die Retroviren schon deswegen nicht zu gebrauchen, weil die für die Bildung der neuen Lebensformen notwendigen Tausenden von Struktur- und Regulatorgenen ja vorher gar nicht existiert haben.
Dieser Einwand gilt grundsätzlich für die Bildung sämtlicher neuer Lebensformen, die entsprechend neue Struktur- und Regulatorgene aufzuweisen haben, d. h. also für genau die wesentlichen Fragen, die eine Evolutionstheorie mit Hilfe des Gentransfers durch Viren erklären wollte!
Eine mögliche Retrovirenwirkung auf vorhandene, funktionsfähige Gene verschiedener Lebensformen wäre in Korrelation mit der Stärke der Genominfektion und der damit einhergehenden Erhöhung der Mutationsraten eine schnelle Abwandlung redundanter Sequenzen. Inwieweit Introns auf Transposons zurückzuführen sind, wird die weitere Forschung zeigen. Weder die mutationsbedingten Veränderungen redundanter Sequenzen noch zusätzliche Introns können die Entstehung neuer Baupläne verständlich machen.
Bei tatsächlicher Übertragung von Genen oder Bruchstücken von Genen ist die Degeneration mangels stabilisierender Selektion zu erwarten (und zwar genauso wie das für Pseudogene und nicht-autonome Transposon-Sequenzen schon tausendmal festgestellt worden ist): Stopcodons, Punktmutationen, Deletionen, Dissoziation durch Crossing over etc. werden mit der Zeit die Sequenzen so abwandeln, daß selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, daß im Laufe größerer Zeiträume ganze Genwirkketten zusammenkommen könnten, die anfangs übertragenen Gene nicht mehr funktionsfähig wären.
Aber selbst wenn jemand gläubig darauf bestehen wollte, daß - aus welchen rational-wissenschaftlich nicht nachzuvollziehenden Gründen auch immer - doch eine ganze Kette funktional zusammengehörender Gene von einer Art zur anderen möglich sei und stattgefunden habe, bleiben immer noch die Fragen nach dem Ursprung des absolut notwendigen Regulatorgen-Systems und schließlich nach der sinnvollen Integration in das Funktionssystem der fremden Art. Was wir in der Tat bei gentechnologisch durchgeführtem Gen-Transfer von einer Art zur anderen sehr häufig erleben, ist die Abschaltung der artfremden Gene durch DNA-Methylierung. Darüber sind in den letzten Jahren umfangreiche Studien gemacht und publiziert worden.
Soweit horizontaler Gentransfer durch Retroviren bei der Herkunft der Lebensformen überhaupt eine Rolle spielt, dürfte es sich um eine untergeordnete Rolle jenseits des Ursprungs der (primären) Arten handeln."
Mich würde natürlch wieder interessieren, wie Sie diese Einwände widerlegen könnten. Nach meinen bisherigen Erfahrungen jedoch sind sich die meisten Vertreter der "Virus-Evolutionshypothese" der oben genannten Schwierigkeiten gar nicht bewußt.
Bleibt nachzutragen, daß der Diskussionspartner keine Lösungsvorschläge zu den hier aufgeführten Evolutionsproblemen vorgelegt hat.