voriges Kapitel - zum Inhaltsverzeichnis - nächstes Kapitel

B) EMBRYOLOGIE

E. Haeckel formulierte 1866 sein "Biogenetisches Grundgesetz", welches er als einen der wichtigsten Beweise der Darwinschen Evolutionstheorie betrachtete. Ein Embryologe vom Range Blechschmidts kommentiert 1968, p. 49 (ähnlich 1977 und 1982):

"Dieses seither sogenannte "Biogenetische Grundgesetz" war ein katastrophaler Irrtum in der Geschichte der Naturwissenschaften. Er hat die Biologie um ein volles Jahrhundert in theoretischer und praktischer Hinsicht zurückgeworfen. Auf theoretischem Gebiet durch die Annahme, daß mit der vergleichend-anatomischen Feststellung von Ähnlichkeiten bereits eine Patentlösung gefunden sei, um generell Entwicklungsvorgänge zu erklären. Auf praktischem Gebiet, weil man meinte, nunmehr überhaupt jede Gestaltungskraft und damit die Psyche des Menschen selbst einfach als eine Wiederholung, d.h. als Reproduktion, auffassen zu dürfen."

Weiter bemerkt Blechschmidt 1982, p.21:

"Die phylogenetische Deutung von Entwicklungsprozessen beim Menschen ist ein irriger Versuch, mit Kurzschlüssen etwas zu deuten und so auf bequeme Weise abzutun, was in Wahrheit durch intensive Forschungstätigkeit beim Menschen und auch beim Tier als ontogenetische Differenzierung aufgeklärt werden muß. Das Thema in der Entwicklungsbiologie ist nicht die Ähnlichkeit von Strukturen, sondern der Grund dieser Ähnlichkeit. Hier beginnt das naturwissenschaftliche Problem."

Da bis auf den heutigen Tag das "Biogenetische Grundgesetz" in Lehrbüchern als Evolutionsbeweis zitiert wird, kann man das "volle Jahrhundert" nicht nur wörtlich nehmen, sondern sogar bis in die Gegenwart erweitern.

Auch Blechschmidt steht mit der Beurteilung der Darwin- Haeckelschen Evolutionstheorie als Hemmnis in der biologischen Forschung in seinem Fachgebiet keineswegs allein. J. M. Oppenheimer sieht den Bruch der Embryologie mit der morphologischen Vergangenheit (und das heißt mit der phylogenetischen Interpretation im Sinne des "biogenetischen Grundgesetzes") als einen lang andauernden Prozeß, der erst in den 1930er Jahren im wesentlichen abgeschlossen worden ist. Nach Hinweis auf die frühen Experimentatoren in der Embryologie und deren vielfältige Ansätze (wobei der Gegensatz zu Haeckels evolutionistischem Konzept hervorgehoben wird) schreibt sie (1967, pp.8/9):

"The fact remains, however, that the generalization of the early experimental results on a profound theoretical level had to await the passage of approximately a third of the 20th century. Spemann's (1936, 1938) Silliman Lectures at Yale, which looked somewhat in the direction of the past, and Harrison's (1945) address at the Harvard Tercentenary, which faced squarely into the future, were not delivered until the 1930's (in 1933 and 1936, respectively; Harrison's Silliman Lectures, delivered in 1949, have not yet appeared in print). Pantin (1955) has recently set 1918 as the date for biology's breaking of tradition with its morphological past. For embryology, the change was a gradual one, from 1869 through to the 1930's, and it may or may not be significant that the midpoint of the transition was passed close to the turn of the century."

Den Grund, warum sich die experimentelle Schule so langsam durchsetzte, gibt sie auf den Seiten 214/215 an:

"We also assume, having assumed development, that development is epigenetic, and since the days of von Baer we are convinced that something new comes from something old. Shortly after the Darwinian period an assumption of causality crept into our concepts of epigenesis (though to be sure it had been creeping in and out of them for centuries). His (1874) stated specifically that one step in development is the cause of the next, or at least its necessary condition. He was laughed down by Haeckel who marshalled all the evidence from recapitulation to ridicule him. The formulation of our principal working assumption of today was thus not only not favorably influenced by, but was most vigorously opposed by, the proponents of evolutionary embryology."

Sie ist zwar der Auffassung, daß Haeckels Enthusiasmus zur Popularität des Fachgebiets beigetragen hat, betont dann aber (trotz Hinweis auf Rouxs erste Arbeit, die noch evolutionistisch motiviert war)(p.218):

"I personally believe that many of our most important working assumptions of today developed independently of classical evolutionary doctrine in so far as anything could be independent of it after its promulgation."

Wie Blechschmidt hält Oppenheimer das "biogenetische Grundgesetz" für erledigt (p.48). Neuerdings wird jedoch die Diskussion dieser Fragen durch einige für alle Seiten völlig überraschende Ergebnisse der molekularen Entwicklungsgenetik wiederbelebt (Theißen und Saedler 1995, M. S. Fischer 1997), aber das wäre ein ganzes Kapitel für sich.

Gould hat 1977 und 1981 zwei ausführliche Studien vorgelegt, in denen die Geschichte und die Auswirkungen des "Biogenetischen Grundgesetzes" im Detail besprochen wird. Auf die Kapitel zur Analyse der Förderung des Rassismus durch dieses "Gesetz" und seinen verderblichen Einfluß in der Kriminalanthropologie sowie in der Pädagogik sei besonders hingewiesen.

Wie oben für die Genetik gezeigt, ließe sich auch für die Embryologie die Auseinandersetzungen der verschiedenen Schulen und die hemmende Wirkung der Darwin/Haeckelschen Evolutionstheorie auf die Forschung im einzelnen verdeutlichen. Wir wollen uns jedoch mit dem Hinweis auf einige weitere Autoren, die die Geschichte des "Biogenetischen Grundgesetzes" von verschiedenen Standpunkten aus im einzelnen behandelt haben, an dieser Stelle begnügen: De Beer (1930; 1951), Portmann (1956; 1969), Conrad-Martius (1949), Breidbach (1997), Fischer (1997). Bei der Behandlung paläontologischer Fragen kommen wir auf das Thema kurz zurück.


voriges Kapitel - zum Inhaltsverzeichnis - nächstes Kapitel
Internet address of this document: internetlibrary.html
© 1998, 1999, 2000, 2001 by Wolf-Ekkehard Lönnig - loennig@mpiz-koeln.mpg.de

Disclaimer