voriges Kapitel - zum Inhaltsverzeichnis - nächstes Kapitel

DIE ABLEHNUNG MENDELS IN DER EHEMALIGEN SOWJETUNION

Wir wollen an dieser Stelle noch kurz auf die besondere Variante der Ablehnung des "Mendelismus" in der Sowjetunion von etwa 1937 bis 1964 eingehen. Auch hier berief man sich mit allem Nachdruck auf Darwins Meinung von der Vererbung erworbener Eigenschaften (allerdings unter Vernachlässigung der Selektionstheorie, die weniger ins ideologische Konzept paßte). Unter der Führung Lyssenkos wurde jedes Mittel eingesetzt, um den "Mendelismus-Morganismus" etc. zu vernichten (Einzelheiten z. B. bei Medwedjew 1971 und Regelmann 1980; siehe auch Krementsov 1997). "Dieser Zustand hemmte nicht nur die Entwicklung der Wissenschaft, sondern hatte auch einen weitreichenden und zerstörerischen Einfluß auf die Volkswirtschaft der Sowjetunion" (Lerner 1971, p.7). Bei der Beurteilung dieser Fehlentwicklung in der Sowjetunion wird meiner Auffassung nach die oben zitierte Situation in der Biologie der westlichen Länder zu Beginn der 30er Jahre meist zuwenig berücksichtigt. Die kommunistische Staatsdoktrin verlangte eine atheistisch- materialistische Biologie als wesentliche Stütze ihrer Weltsicht. Marx schrieb am 16. Januar 1861 an Lasalle:

"Sehr bedeutend ist Darwins Schrift und paßt mir als naturwissenschaftliche Grundlage des geschichtlichen Klassenkampfes...Trotz allem Mangelhaften ist hier zuerst der "Teleologie" in der Naturwissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, sondern der rationale Sinn derselben empirisch auseinandergelegt" (Zitiert nach Kradler 1976, pp. 195/196).

Immerhin beabsichtigte Marx den ersten Band seines Werkes DAS KAPITAL Charles Darwin zu widmen, was dieser - durch "seine Heirat mit Emma Wedgewood mit der englischen Steingutmanufaktur verschwägert" (Thürkauf 1982) - taktvoll ablehnte. Was sich aber in den westlichen Ländern zu Beginn der 30er Jahre in Verbindung mit Mendel, Bateson, Morgan u. a. (siehe oben) abzeichnete, trug den Keim einer für die Grundideen der gesamten kommunistischen Staatsdoktrin gefährlichen Auffassung in sich. Wenn sich überdies ein "Genetiker von Weltruf" (Wartenberg über H. Nilsson) ganz auf dem Boden Mendelschen Vererbungsgeschehens 1935 zur Auffassung bekennt, daß die Species konstant seien, von einem Konflikt zwischen Mendel und Evolution spricht (p.232) und schließlich feststellt (p.237):

"For the theory of evolution is surely, if we think a little more deeply on the matter, nothing but the last remnant of our anthropomorphic conception. ...Darwin's Evolution has been proved to be lifeless, and probably, what is worse, to have been a fiction."

- dann kann man sich bei der Frage nach einer Alternative zur Evolutionstheorie vorstellen, daß atheistisch-marxistische Philosophen und Biologen von den Mendelschen Erkenntnissen nicht gerade begeistert waren und nach einer Lösung aus dem Dilemma suchten.

Von C. Correns waren die Schwierigkeiten 1920/1924, p. 1144, wie folgt beschrieben worden:

"Die Lehre von den selbständigen und unveränderlichen Erbanlagen, zusammen mit dem schon von NÄGELI betonten, aber erst jetzt vollbewerteten Unterschied zwischen dem e r b l i c h e n "Genotypus" und dem von äußeren Bedingungen hervorgerufenen und    n i c h t    e r b l i c h e n    "Phänotypus" haben neuerdings Anlaß gegeben, die ganze Abstammungslehre in Frage zu ziehen. Eine Wirkung äußerer Einflüsse auf das Keimplasma in dem Sinne, daß eine Vererbung von Anpassungen erfolgt, die am Individuum zustande gekommen sind - wie noch NÄGELI, trotz der scharfen Unterscheidung von erblich und nicht erblich, annahm -, läßt sich experimentell nicht nachweisen. Nach der Entdeckung der gleichsinnigen Faktoren sind die wenigen Beispiele, die man früher dafür anzuführen pflegte, mehr als fraglich geworden. Die Flucht in lange Zeiträume, zu zahllosen Wiederholungen der Einwirkungen, kann auch kaum weiterhelfen. Was wir in Mutationen von neuen erblichen Eigenschaften auftreten sehen, sind fast ausschließlich Verluste oder pathologische Merkmale, die keinen phylogenetischen Fortschritt bedeuten. Dazu ist nur bei wenigen der Verdacht ausgeschlossen, sie seien durch eine mehr oder weniger komplizierte Mendelspaltung entstanden, also überhaupt nichts eigentlich Neues. Der Formenreichtum ist in vielen Verwandtschaftskreisen sehr groß; wir dürfen aber annehmen, daß sehr vieles davon "Kombinanten" sind, infolge vorangehender Bastardierung. Etwas phylogenetisch Neues entsteht natürlich auch so nicht.

Wir stehen hier zur Zeit ziemlich ratlos zwischen den Tatsachen, die uns die Paläontologie und, wenn auch weniger sicher, die Ökologie liefert, und den experimentell festgestellten Tatsachen der Vererbungslehre. Die Kluft muß einmal überbrückt werden, aber zur Zeit scheinen wir von der Lösung weiter entfernt zu sein, als man vor 20 Jahren dachte" (Hervorhebung im Schriftbild von mir).

(Es sei dazu angemerkt, daß die Tatsachen der Paläontologie und Ökologie jedoch sehr wohl zu den hier von Correns beschriebenen Tatsachen der Vererbungslehre paßten und immer noch passen - vgl. meine ausführliche Dokumentation 1993). Ich vermute aber, daß sich Correns in der Paläontologie nicht besonders gut auskannte.)

H. Nilsson hat das für die marxistische Philosophie absolut inakzeptable Verständnis der Mendelschen Genetik in den ersten Jahrzehnten nach der 'Wiederentdeckung' mit der folgenden Analogie zusammengefaßt (1953, pp. 819/820):

"Durch MENDEL wurde ja doch eine Revolution des ganzen biologischen Denkens hervorgerufen.     D a s    b i o l o g i s c h e    A t o m    w u r d e    g e s c h a f f e n.   Denn das Gen ist ein biologisches Atom, ganz so wie das chemische Atom in den abiologischen Naturwissenschaften die Grundeinheit ist. Beide sind konstant, wenn auch nicht absolut. Aber unter gewöhnlichen, hier auf der Erde herrschenden äusseren Bedingungen und Energieverhältnissen sind sie, so weit unsere Erfahrung reicht, fast alle ganz konstant. Es gibt zwar chemische Atome, die stetig und spontan zerfallen wie die radioaktiven Elemente. Und es gibt Gene, die spontan zerfallen. In beiden Fällen scheint aber der Prozess zu Erscheinungselementen zu führen, die man als niedriger betrachten muß, falls man eine Wert(ung) einführt. Die Zerfallselemente der Chemie repräsentieren niedrigere Ordnungsnummern (Kernladungszahlen) der Atomreihe der Elemente, sind also durch Energieverlust des Ausgangselementes gewonnen. Die biologischen Mutanten repräsentieren in ganz ähnlicher Weise Verlustformen (Rezessivformen oder Homozygotlethale), bei denen ein normales Gen durch die Veränderung avital geworden ist. In beiden Fällen ist die Veränderung diskontinuierlich. Von einer sukzessiven Transformation kann keine Rede sein."

Nilssons eindeutige Schlußfolgerung war, daß die Evolutionstheorie ganz aufgegeben werden müsse. Welche Alternative sah der Marxismus angesichts dieser Lage?

Mit dem Rückgriff auf die Vererbung erworbener Eigenschaften im Sinne Darwins, der diese Idee in Anlehnung an Lamarck, im allgemeinen jedoch ohne psychische Komponente, weiterentwickelt hatte (und in Übereinstimmung mit Engels 1876), glaubte man nun von marxistischer Seite, den "idealistisch- mendelistischen" Auffassungen von der Vererbung und Evolution ein Ende bereiten zu können. Hieraus erklärt sich vor allem die sachlich völlig unbegründete, oft geradezu absurde Polemik gegen den "Mendelismus" und allen daraus resultierenden (bzw. damit verwandten) Auffassungen.

Die erst 1964 eingeleitete große Wende zurück zum "Mendelismus" hatte mindestens dreierlei Usachen: 1. den oben erwähnten zerstörerischen Einfluß auf die Wirtschaft; 2. der aufgrund eigener Forschungsergebnisse wachsende Widerstand sowjetischer Wissenschaftler (nicht einmal der Einsatz des gesamten biologisch-wissenschaftlichen Potentials der ehemaligen Sowjetunion vermochte die generelle Vererbung erworbener Eigenschaften zu demonstrieren) sowie einer weiteren Fundierung der Vererbungsgesetze durch die inzwischen im Westen aufblühende Molekulargenetik und 3. die inzwischen erfolgte Konsolidierung der Synthese zwischen "Mendelismus" und Darwinismus, die - nach Auffassung ihrer Vertreter - etwaigen metaphysischen Spekulationen zur Evolutionsfrage ein vollständiges Ende bereitet hatte. So schreiben N.V.Timofeeff-Ressovsky, N.N.Voroncov und A.V.Jablokov (1975, p. 317):

"Die Synthese von Genetik und Darwinismus hatte zur Folge, daß sich die Lehre von den Mikroevolutionsprozessen entwickelte, die der gesamten Evolution der Organismen auf der Erde zugrunde liegen."


voriges Kapitel - zum Inhaltsverzeichnis - nächstes Kapitel
Internet address of this document: internetlibrary.html
© 1998, 1999, 2000, 2001 by Wolf-Ekkehard Lönnig - loennig@mpiz-koeln.mpg.de

Disclaimer