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VI. SELEKTION UND DIE ENTSTEHUNG PRIMÄRER ARTBARRIEREN

 

Wie wir auf der Seite 439 festgestellt haben, soll nach Auffassung der Synthetischen Evolutionstheorie die Selektion die postulierte kontinuierliche Entwicklung vollständig beherrschen. Der Neodarwinismus wehrt sich entschieden gegen die Behauptung, eine Zufallslehre zu sein.

Lorenzens Kommentar zu diesem Thema haben wir schon zitiert (pp. 439/440). Mayr schreibt 1984:

Nichts beweist besser, daß jemand Darwins Selektionstheorie nicht verstanden hat, als wenn er sie eine Zufallslehre nennt. Der Selektionsvorgang erfolgt in zwei tandemweise aufeinanderfolgenden Schritten. Der erste, der während der Reifung der Gameten und vor der Eibefruchtung stattfindet, führt zur genetischen Variation (crossing over, Reduktionsteilung, Gameten-Ausschüttung, das Sichfinden männlicher und weiblicher Gameten). Alle diese Vorgänge bei diesem ersten Schritt werden in der Tat vom Zufall regiert. Jedoch, kaum ist das Ei befruchtet, oft freilebend wie bei niederen Tieren oder im Mutterleib oder dotterreichen Ei, so ist es jede Sekunde der Selektion ausgesetzt. Und die Wahrscheinlichkeit, dasjenige Individuum zu sein, was unter Tausenden oder Millionen von Gameten und Zygoten wieder erfolgreich zur Fortpflanzung schreitet, hängt zu einem hohen Grad davon ab, wie gut die Physiologie des betreffenden Individuums ist und wie gut es an die augenblickliche Umwelt angepaßt ist.

...Der erste Schritt des Selektionsvorgangs, die Produktion der Variabilität, wird in der Tat vom Zufall regiert. Beim zweiten Schritt spielt jedoch der Zufall eine wesentlich geringere Rolle, denn hier kommt es, in Konkurrenz mit den Artgenossen, darauf an, "der Beste" zu sein.

Huxley bemerkte zu dieser Frage 1962, p. 44:

The frequent assertion that biological evolution is based on chance is entirely untrue. "Chance" events furnish its raw material but the process itself is directional, self-steering, but automatically steering itself in a definite direction. This is because...natural selection is not a random but an "ordering" mechanism.

Ridley meint bei der Besprechung der Einwände mehrerer Autoren (s.o.) 1985, p. 124 unter anderem:

How can I hope to succeed with three authors (Denton, Hayward and Pitman) who, like the Victorian astronomer Sir John Herschel, think that evolution by natural selection is the "law of higgledy-piggledy" - a "random search mechanism" (Denton), of "pure chance" (Hayward and Pitman)?

Diese Kommentare verdeutlichen noch einmal die neodarwinistische Auffassung von der Selektion als ein übergeordnetes, alle Entwicklungsprozesse steuerndes Prinzip, das die Kritiker bedauerlicherweise übersehen oder so gründlich missverstehen, dass alle Widerlegungsversuche zum Neodarwinismus 'Angriffe auf ein Zerrbild' sind.

Sehen wir uns solche kraftvollen neodarwinistischen Behauptungen etwas näher an und stellen wir die Frage, wie die bald unüberschaubare Mannigfaltigkeit an Strukturen und deren Anordnung und harmonisches Zusammenpassen zu Organen, Organsystemen und Organismen entstanden sind. "Chance" events furnish its raw material. Bei den Rohmaterialien handelt es sich um die pp. 329 - 419 zitierten (definitionsgemäß richtungslosen) Zufallsmutationen. Darüber hinaus bestimmen Zufallsereignisse auch weitgehend die Rekombination (Mayr).

Ergo: Was der Selektion angeboten werden kann, wird vom Zufall beherrscht. Die Selektion selbst aber, sagt man, stehe über diesen Zufallsprozessen, sie beherrsche und lenke die Evolution.

Dobzhansky hat schon 1937 versucht, die Selektion von der Entstehung der Variation streng zu trennen als er p. 149 schrieb: "...the origin of variation is a problem entirely separate from that of the action of selection." Zuvor bemerkt er:

With consummate mastery Darwin shows natural selection to be a direct consequence of the appallingly great reproductive powers of living beings. A single individual of the fungus Lycoperdon bovista produces 7 X 1011 spores; Sisymbrium sophia and Nicotiana tabacum, respectively, 730,000 and 360,000 seed; salmon, 28,000,000 eggs per season; and the American oyster up to 114,000,000 eggs in a single spawning. Even the slowest breeding forms produce more offspring than can survive if the population is to remain numerically stationary. Death and destruction of a majority of the individuals produced undoubtedly takes place. If, then, the population is composed of a mixture of hereditary types, some of which are more and others less well adapted to the environment, a greater proportion of the former than of the latter would be expected to survive. In modern language this means that, among the survivors, a greater frequency of carriers of certain genes or chromosome structures would be present than among the ancestors...

Dazu sei ein Einwand französischer Biologen von 1961 ["Should we burn Darwin?" - Science Digest, pp. 61 - 63, hier p. 63] zitiert:

Out of 120,000 fertilized eggs of the green frog only two individuals survive. Are we to conclude that these two frogs out of 120,000 were selected by nature because they were the fittest ones; or rather - as Cuenot said - that natural selection is nothing but blind mortality which selects nothing at all?

Die gleichen Fragen stellen sich für die 700 Milliarden Sporen von Lycoperdon, die 114 Millionen Eier mal der Zahl der Laichzeiten der Amerikanischen Auster, für die 28 Millionen Eier des Lachses usw.. Salomo schrieb 1000 v.u.Z./1970 p. 688: "Wiederum sah ich unter der Sonne, dass nicht den Schnellen der Preis zufällt, und nicht den Helden der Sieg...sondern alle trifft Zeit und Zufall."

Es ist ja klar: Wenn von Millionen und Milliarden Individuen nur wenige (nämlich die zitierten zwei Nachkommen eines Elternpaars bei konstanter Population) überleben und zur Fortpflanzung kommen, dann ist es bei den unüberschaubaren Zufälligkeiten in der Natur gar nicht nachzuvollziehen, dass die beiden Tüchtigsten überleben sollen. Stark unterschiedliche Fähigkeiten zeichnen schon die Ontogenese aus. Beutetiere und Fressfeinde, Standortunterschiede und Witterungsbedingungen etc. gehören zu den ununterbrochen variierenden Parametern, so dass der Zufall bei dieser Frage ganz offensichtlich einen enormen Raum einnimmt. Es ist auch bei solchen Nachkommenzahlen viel wahrscheinlicher, dass statt der seltenen besten die 'mittelmäßigen' Rekombinanten überleben und sich fortpflanzen. Und die mittelmäßigen Individuen behaupten sich unter den jeweils gegebenen Umständen noch mit einer Vielzahl von neutralen bis schwach nachteiligen Genen.

Wir wollen damit nicht sagen, dass es gar keine Selektion gibt [vgl. auch pp. 78f, 118ff, 309f; siehe weiter pp. 208, 268 und 340f]. Selbstverständlich fallen physiologisch, anatomisch und ethologisch stark geschädigte Mutanten ihren Fressfeinden in der Regel schneller zum Opfer als normal funktionierende Rekombinanten. Auch werden solche Mutanten häufig Schwierigkeiten mit der Nahrungsbeschaffung haben. Nur auf Inselgebieten mit Ausfall oder Einschränkung solcher stabilisierender Selektion können stärkere Degenerationsprozesse schnell ablaufen. Anders sieht es jedoch mit den seltenen Rekombinanten aus, die in einer kontinuierlichen Evolution durch Mutationen mit 'geringer oder sogar unsichtbarer Wirkung auf den Phänotyp' die Anpassung und Höherentwicklung besorgen sollen. Das müssten ja ausgesprochen seltene Mutanten und Rekombinanten sein, die den Rahmen der rekurrenten Variation überschreiten. Bei den oben zitierten Zahlen hätten jedoch solche Individuen kaum eine Chance, zur Fortpflanzung zu gelangen, - abgesehen davon, dass es Schwierigkeiten mit der Beschaffung eines entsprechend weiterentwickelten Partners geben dürfte. Dazu kommt noch, dass die aufgrund wechselnder Umweltverhältnisse von Individuum zu Individuum auftretenden nicht-genetischen Phänotypunterschiede die nahezu unsichtbaren Auswirkungen der Mikromutation bei weitem übertreffen können. Vielleicht könnte in ganz seltenen Fällen hier noch der von neodarwinistischer Seite für die Selektion so stark verneinte Zufall weiterhelfen. Aber dafür dürfte die Wahrscheinlichkeit so gering sein, dass schon ein starker Optimismus notwendig wäre, um damit generell den Ursprung der Lebensformen zu erklären.

Ein weiterer Punkt: Da die Unterschiede in der Zahl der Nachkommenschaft z.B. zwischen einem Hering und einer Elephantenkuh nicht zu übersehen sind, können auch die Gametenproduktion und Nachkommenzahl nicht einfach als gegeben angesehen werden. Worauf gehen die Unterschiede zurück? Nach neodarwinistischer Auffassung sind sie letztlich auch wieder auf die alle Strukturen und Fähigkeiten erzeugenden Zufallsmutationen zurückzuführen. Wenn es also die aufgrund der Nachkommenüberproduktion postulierte übergeordnete Selektion gäbe, dann wäre sie selbst auch wieder ein Produkt der Mikromutationen!

Setzen wir aber einmal die alles überwaltende Selektion im Sinne der Synthetischen Evolutionstheorie voraus: Worauf beruht das "survival of the fittest"? Das Überleben ist ganz klar abhängig von der Funktionsfähigkeit der in den Organismen zusammenwirkenden Strukturen, nach deren Ursprung wir oben fragten. Eine Hase läuft schneller, eine Löwe springt weiter, ein Zebra wittert besser, ein Adler sieht schärfer, ein Schimpanse reagiert genauer etc. als seine Artgenossen, weil nach neodarwinistischer Lehre die Zufallsprozesse der Mutation und Rekombination sie in einer kontinuierlichen Evolution mit allen bisherigen Strukturen und auch den neuerlichen Verbesserungen ausgerüstet haben. "Chance" events bestimmen damit alles: Form und Funktion der Strukturen in allen Bereichen, diese die natürliche Auslese im Kampf ums Dasein und damit die gesamte biologische Evolution. Ohne Form und Funktion bereits vorhandener Strukturen gibt es keine Selektion. Die Selektion ist damit auch nicht "self-steering" und ähnliches mehr, sondern die Folge der durch "chance" events entstandenen Formen und Fähigkeiten, samt Überproduktion der Nachkommenschaft. [Nicht ohne Interesse stelle ich fest, dass neuerdings ein gemäßigter Vertreter der Selektionstheorie in einer klärenden Arbeit in diesem und anderen Punkt(en) zu denselben Ergebnissen gekommen ist wie ich schon 1971. Vgl. Endler 1986.] Die gesamte Organismenwelt ist damit auf Zufallsereignisse zurückzuführen. Monod scheint einer der wenigen zu sein, die die Synthetische Evolutionstheorie von Seiten ihrer Befürworter konsequent zu Ende gedacht haben (vgl. p. 441). Diese Theorie ist ihrem tiefsten Wesen nach eine Zufallslehre und die Kritiker treffen den Kern der Sache, wenn sie unter anderen Fragen diesen Punkt ins Visier nehmen.

Da selbst die schärfste Selektion nichts mehr vermag, wenn das genetische Potential ausgeschöpft ist (vgl. pp. 353-358), können durch Selektion auch keine neuen primären Arten entstehen.

Wie die Selektionstheorie im Detail an konkreten Beispielen wie die Bildung des Fangapparats von Utricularia der Synorganisation von Auge und Gehirn, den Radarsystemen von Fledermäusen etc. gescheitert ist vgl. z.B. Nachtwey 1959, Shute 1961, Lönnig 1976, Kahle 1984, Kuhn 1984, 1985, Schmidt 1985, Lovtrup 1987.

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Nachtrag (2002): Vgl. zur Selektionsfrage weiter Lönnig (2001): Natural Selection. In: In: The Corsini Encyclopedia of Psychology and Behavioral Sciences. Third edition. Vol. 3, S. 1008-1016. Edited by W.E. Craighead und C.B.Nemeroff. John Wiley & Sons. New York 2001.

 


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