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KEINE NEUEN ARTEN DURCH GENMUTATION

 

Bei keinem der vielen mutationsgenetisch intensiv untersuchten oder speziell für umfangreiche Mutagenitätstests [Vgl. dazu z.B. die Liste der Testorganismen, die allein für die Mutagenitätsprüfung von Epoxiden eingesetzt worden sind - Ehrenberg et al. 1981, pp. 1 - 113 (Liste pp. 9 - 18).] verwendeten Organismen ist jemals auch nur eine einzige wirklich neue Art, geschweige denn Gattung oder Familie entstanden, und nirgends ist Höherentwicklung etwa durch die synorganisierte Bildung neuer Organe und Organsysteme zu beobachten.

Bei der Vielzahl der festgestellten synthetischen und natürlichen mutagenen Agenzien würde die Organismenwelt sonst wohl auch so stark in Bewegung geraten, dass ein natürliches System gar nicht mehr möglich wäre (vgl. p. 118 f.)

Die nachstehende alphabetische Liste gibt nur einen kleinen Ausschnitt solcher Agenzien wieder. (Es handelt sich dabei wieder nur um Abhandlungen, bei deren Studium ich mir desöfteren längere Notizen gemacht habe.):

Tab.: Einige Beispiele für mutagene Agenzien.

2, 4, 5 - T ('Agent Orange')

W. F. Grant 1979

Hanify et al. 1981

Alkohol

Butler und Sanger 1981

de Raat et al.1983

Hoeft und Obe 1983

Hedner et al. 1984.

Antibiotika

Bhattacharjee und Pal 1982 (Tetracycline)

Demopoulos et al. 1982 (Bleomycin)

Lönnig 1985 (Chloramphenicol)

Prasad 1981 (Neomycin u.a.)

Basen, Nukleoside und Hormone

vgl. p. 229

Betelblätter

Sadasivan et al. 1978

Cephaloridine

Jaju et al. 1982

2,4 - Dichlorophenooxyacetic acid

Khalatkar und Bhargava 1982

Fäzes

Stich et al. 1980

Bruce et al. 1982

Farbstoffe (natürliche und synthetische)

Combes und Haveland-Smith 1982

Formaldehyd

Moeman und Baillie 1981

Gingerol

Nakamura und Yamamoto 1982, 1983

Herbizide

Behera und Bhunya 1980 (Amiben)

Hitze

Atayan 1979

Garriot und Chrisman 1981

Duker et al. 1982

Schaaper und Loeb 1982 (p. 19: "Heat has long been recognized as an ubiquitous environmental mutagen, presumably based on its DNA-damaging properties.").

Williams-Hill und Grecz 1983

(Vgl. auch Kornberg 1980, zitiert p. 332)

Insektizide

Reddy und Rao 1981 (BHC und Nuvacron; p. 699: "Mutagenic effects of wide range of insecticides were reported by several scientists...")

Karamel

Stich et al. 1981

Rosin et al. 1982

Kosmetika

Gocke et al. 1981 (31 getested, 15 davon mutagen im Amestest, von den letzteren wiederum 5 im Basctest und 2 im Mikronukleustest.)

Lactasius (und andere Pilze)

Knuutinen und von Wright 1982

LSD

Mitra et al. 1979

Meskalin

Moorthy und Mitra 1979

Oestrogene

Murthy und Prema 1983

Ozone

Dubeau und Chung 1982

Palmyramehl

Kangwanpong et al. 1981

Papiermühlenabwasser

Nestmann 1980

Pestizide

Moriya et al. 1983 (p. 185: "A total of 228 pesticides (88 insecticides, 60 fungicides, 62 herbicides, 12 plantgrowth regulators, 3 metabolites and 3 other compounds) was tested for mutagenicity...50 pesticides (25 insecticides, 20 fungicides, 3 herbicides, 1 plant-growth regulator and one other component) were found to be mutagenic.)

Paracetamol

Reddy 1984

Quercetin und Kaempferol

Watson 1982

Rheinwasser

Alink et al. 1979, 1980, 1983

Safrol und verwandte Verbindungen

Sekizawa und Shibamoto 1982

Schreibbänderextrakte

Moller et al. 1983

Stress

Burla und Taylor 1982

Uraneous outcrops

Delpoux und Dalebroux 1981

Viren

Alexandrov und Golubowsky 1983

Zigarettenrauch bzw. Tabak allgemein

Marshall et al. 1983

 

Zu dieser Liste sei zunächst angemerkt, dass die hier aufgeführten Agenzien nicht alle gleich effizient sind: Alkohol, Karamel, Hitze, Ozon u.a. sind in die Gruppe der schwach mutagenen Agenzien einzuordnen, und z.T. sind erst die im Metabolismus anfallenden Abbauprodukte mutagen, wie Azetaldehyd beim Alkohol. Zahlreiche Mutagene haben sich in den unterschiedlichsten Testsystemen als potent erwiesen, bei anderen war die Wirkung nur auf wenige oder gar ein einziges System beschränkt, so dass man von den Ergebnissen eines Testsystems allein noch nicht verallgemeinernd auf alle Organismen schließen kann (vergleichende Untersuchungen z.B. Mutation Research 100, Nos. 1-4, 1982). Das Gesamtsystem eines Organismus muss berücksichtigt werden: Die Mutagenität von Stoffwechselendprodukten ist z.B. von der Ernährung abhängig: Fäzes von Vegetariern zeigt eine geringere Aktivität als die der übrigen Bevölkerung (Reddy et al. 1980, Kuhnlein et al. 1981) und ist auch eine Frage der Vitaminzufuhr. Vitamin C (Ascorbinsäure)- und Vitamin E (D-alpha-Tocopherol)-Zugabe verringert die Aktivität (Dion et al. 1982). [Vgl. zum Vitamin E auch Summerfield und Tappel 1984.] Auf der anderen Seite hat sich Vitamin C im Salmonella-Test als schwach mutagen erwiesen (Galloway und Painter 1979; El-Torkey und Yamamoto 1983), wobei es die mutagene Wirkung bestimmter Stoffe erniedrigen, anderer dafür aber erhöhen kann. Kann man den Salmonella-Test auf den Menschen übertragen? Verschiedene Untersuchungen zeigen unterschiedliche Wirkungen bei verschiedenen Testsystemen. Beim Menschen kann z.B. die Mutationsrate von Geschwisterchromatiden in den peripheren Lymphozyten durch Vitamin C-Zufuhr gesenkt werden (z.B. bei Teerarbeitern, - siehe Sram et al. 1983; in menschlichen Zellkulturen (Leber) zeigte sich keine Mutagenität. Es bestehen Unterschiede bei in vitro- und in vivo-Untersuchungen (in vivo war Vitamin C nicht mutagen; - Speit et al. 1980). [Review zur Ascorbinsäure siehe Shamberger 1984. Glücklicherweise gibt es noch weitere antimutagene Agenzien wie z.B. Chlorophyll (Lai et al. 1980).]

Oben (p. 229) haben wir schon die indirekte Mutationsauslösung besprochen. Hier liegen u.a. Fälle vor, in denen die Störung des fein ausbalancierten physiologischen Gleichgewichts durch Stress über das Hormonsystem mutagen sein kann. Für Pflanzen liegen umfangreiche Untersuchungen über Ernährung und Mutationsraten vor. Mangelernährung erwies sich als mutagen (Stubbe 1966; Cox et al. 1987).

Bei der Frage nach der Mutagenität verschiedener Agenzien spielt weiter die Konzentration der Substanzen eine entscheidende Rolle. In der Regel steigt die Mutagenität linear mit der zugeführten Dosis an (Ehling et al. 1983, Ehrenberg et al. 1983, Faure et al. 1981, Gupta und Singh 1982, Jostes et al. 1981, Nakamura und Okada 1981 u.v.a.), - es gibt jedoch auch Ausnahmen: 2-Komponenten-Kurve nach Bleomycingaben (Sognier et al. 1982) oder 'Sättigung' der Mutationsfrequenz nach hohen Strahlendosen bei Arabidopsis-Samen (Dellaert 1980), aber auch exponentielle Zunahme der Mutationsrate bei hohen Dosen alkylierender Agenzien (Hinweis bei Ehrenberg und Hussain 1981). Es sei noch einmal betont, dass es sich bei der obigen Liste nur um eine Veranschaulichung des Spektrums von tatsächlich Tausenden von mutagenen Substanzen handelt, die zwar zum Teil einen unterschiedlichen Wirkungsgrad bei verschiedenen Organismen zeigen, deren Mutagenität jedoch in vielen Fällen in mehreren Testsystemen sicher nachgewiesen wurde.

Dass die Organismen in dieser Lawine natürlicher und künstlicher Mutagene nicht untergehen, liegt an den höchst effizienten Reparaturmechanismen, mit denen alle Pro- und Eukaryontenarten ausgestattet sind (vgl. z.B. Kornberg 1980, Generoso et al. 1980, Seeberg und Kleppe 1982, siehe auch das Autorenkollektiv zum Thema DNA REPAIR REPORTS; Mutation Research 183, 1-110 (1987).

Die für die Reparaturmechanismen zuständigen Gene können ebenfalls mutieren, was entweder zu weniger effizienten Reparatursystemen (neuere Beispiele bei Kircher und Brendl 1984) oder zu deren Ausfall führen kann.

Ein Musterbeispiel für Funktionsausfall ist die durch UV-Strahlung induzierte Xeroderma pigmentosum (Hautkrebs). Dazu ist anzumerken, dass nach Ames und McCann 1981 und Maron und Ames 1983 83 % aller Karzinogene auch mutagen sind und verschiedene weitere Untersuchungen ebenfalls Daten zwischen 80 % und 90 % angeben; - Hinweise bei Lang und Redmann 1979, Ledermann et al. 1980. Der Verlust der DNA-Reparaturfähigkeit bedeutet für viele Organismen das vorzeitige Ende. (Nebenbei bemerkt erhebt sich hier die Frage, wie die hypothetischen Protobionten zunächst ohne Reparatursysteme in einer Uratmosphäre mit starker UV-Einstrahlung und anderen mutagenen Agenzien existieren konnten. Die ungefilterte UV-Strahlung der Sonne würde überdies völlig ausreichen, sogar einer Vielzahl von Lebensformen mit voll funktionsfähigen Reparatursystemen ein Ende zu bereiten.) [Details bei Scherer und Lambert (Naturw. Rdsch. 39, 20-23) (1986)]

Ein weiterer Punkt, der die Schlussfolgerung von der Unwahrscheinlichkeit der Artbildung durch Mutation und Rekombination unterstützt, ist die seit Jahrzehnten bekannte und an den verschiedensten Organismen immer wieder gemachte Erfahrung, dass sich das Mutantenspektrum nach mehrfach wiederholter mutagener Behandlung verschiedener Linien oder Arten nur noch geringfügig vergrößert, d.h. es treten immer wieder die gleichen Mutanten auf. Der große Genetiker Stubbe hat diesen Punkt für seine Antirrhinum-Studien nach 36 Jahren intensiver Mutationsforschung 1966, p. 154 wie folgt zusammengefasst:

Die immer bessere Kenntnis der Mutanten von Antirrhinum hat einige wesentliche Erfahrungen gebracht. Mit jedem neuen großen Mutationsversuch ergab sich im Laufe der Jahre, daß die Zahl der wirklich neuen, erstmalig erkannten Mutanten immer geringer wurde, daß also die Mehrzahl der auftretenden erblichen Veränderungen schon bekannt war.

Ähnlich stellt Gottschalk (1978/1984, p. 168/169) als erfahrender Mutationsgenetiker fest:

Je größer die Sortimente sind, um so schwieriger ist es, sie durch neue Mutationstypen zu erweitern. Es entstehen hierbei bevorzugt Mutanten, die bereits existieren.

Mit anderen Worten strebt die Zahl der neuen Mutantentypen mit immer weiteren großen Mutationsversuchen asymptotisch gegen Null.

Blixt [Vgl. auch Lundqvists Ergebnisse bei der Gerste (1988) zitiert p. 546/47.] legt für seine Mutationsstudien an Pisum folgende Tabelle vor (1975, pp. 46/47):

Tabelle 11 (aus Blixt und Gottschalk 1975):


Dass solche Mutanten auch ganz unabhängig von den Blixtschen Studien in mehreren anderen Laboratorien spontan oder induziert aufgetreten sind, zeigt noch einmal die grundsätzliche Richtigkeit der Aussage Stubbes und Gottschalks, selbst wenn einige dieser Fälle bei der Erbse auf Fremdbefruchtung zurückgehen sollten (Lönnig 1984).

Bei Drosophila und allen anderen daraufhin untersuchten Organismen liegen die gleichen Befunde vor.

Da nach den Berechnungen Ayalas und Kigers (s.o.) jedes einzelne Gen bei der Gesamtbevölkerung des Menschen etwa 80 000 Mal mutiert ist, dürfte auch beim Menschen die Zahl der neu zu beschreibenden 'Mutanten' mit der Zeit zurückgehen (die Kontinuität der Welt vorausgesetzt).

Man muss bei dieser Frage noch berücksichtigen, dass ein großer Teil aller Mutationsereignisse erst gar nicht zu lebensfähigen Individuen führt, d.h. dass man die Zahl der möglichen Mutanten nicht mit der Zahl der Gene (mit vielleicht noch mehreren Allelen) gleichsetzten darf.

Blixt erläutert 1972, p. 4 diese Einschränkung bei der Frage, ob der Pflanzenzüchter sich mit dem gesamten Genpotential seiner Linien zu beschäftigen hat, mit einigen inzwischen durch die Molekularbiologie bestätigten Bemerkungen wie folgt (vgl. auch Ohno 1970):

The number of gene combinations possible to form from ten thousand genes is infinite. If the plant breeder had to consider the entire gene-material as his field of work, the question posed ["The question posed" lautet: "...whether precise controlled plant breeding is a realistic possibility..."] would have to answered in the negative. This, however, is not the case.

A large - probably the major - part of the genes functioning in a plant are most certainly of no concern for the plant breeder, inasmuch as, being essential for the basic function of the cell and differentiation mechanisms, all genetic variation in such genes represent 'forbidden mutations', in the sense that the resulting mutants are completely non-functioning and immediately eliminated. A certain part of the genome may thus exist in probably one specific combination only, representing what may be called the ultra-conservative part of the system. Another large part of the genome, which may then be called the conservative part, seems, although less rigidly, still to be required to be present in the developed form to produce a 'normal' organism able to carry out the plant functions in such a way as to result in a reproductive, competitive individual. Mutations in this part of the genome result in lethals, in sterile individuals, maybe in different kinds of severe chlorophyll deficiencies, and so on.

Thus what has to be dealt with is certainly not the entire genome, but only a part of it, the variable or redundant part, and in all probability this constitutes a minor part.

Die grundsätzliche Richtigkeit dieser Aussage ist durch zahlreiche molekularbiologische Studien in den letzten Jahren bestätigt worden.

So weisen zum Beispiel Dudler et al. 1981, p. 49 auf folgenden Punkt hin:

The powerful technique of in situ hybridization (Gall and Pardue, 1969; John et al., 1969) made it possible to localize many genes in the Drosophila melanogaster genome for which no mutations are known, e.g. the gene(s) coding for histones (Pardue et al. 1977), actin (Fyrberg et al. 1980; Tobin et al., 1980) and many tRNAs (for a review see Kubli, 1981).

Zwar gibt es Unterschiede im Mutationsspektrum nach Einsatz verschiedener Mutagene (Dellaert 1981, Koornneef et al. 1982; dort weitere Literatur), aber es handelt sich dabei um unterschiedliche Schädigung der Genome, so dass sich heute nach dem Einsatz Tausender verschiedener Mutagene niemand mehr der Hoffnung hingibt, durch weitere Agenzien doch noch die ursprünglich erhoffte Artbildung auslösen zu können.


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