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"MENSCHENARTEN"


Im Zusammenhang mit der Artenfrage soll uns eine weitere 'Species' interessieren, mit der jeder von uns bestens vertraut sein sollte: wir selbst. Auch beim Menschen gibt es ganz erstaunliche Unterschiede in der Körpergröße, Hautfarbe, Kopfform, Behaarung, Augen-, Nasen- und Ohrenbildung etc. - man denke etwa an die Unterschiede zwischen Pygmäen, Australiden (Aborigines), Chinesen, Europäern, Afrikanern, Indianern, Eskimos und anderen. Auch innerhalb der verschiedenen Gruppen können die Unterschiede ganz erstaunlich sein: von hypophysären Zwergen einmal abgesehen (die in allen Rassen des Menschen vorkommen), können beispielsweise die Unterschiede in der Kopfform und der Gehirngröße sehr bedeutend sein (zum Letzteren vgl. z.B. Gould 1983). Wir brauchen das jetzt nicht in Einzelheiten auszuführen, denn jeder, der sich in der (Menschen-) Welt ein wenig umgesehen hat, kennt die Unterschiede der Augenfarben, des Haarwuchses und der Haarfarbe, der Körperproportionen etc...

Vom rein morphologischen Standpunkt ließe sich auch beim Menschen aufgrund genetisch bedingter Unterschiede und Rekombinationsmöglichkeiten eine Familie mit mehreren Gattungen und zahlreichen Arten und Unterarten aufstellen. Und das ist auch tatsächlich wiederholt versucht worden, u.a. von Haeckel, der in seiner NATÜRLICHEN SCHÖPFUNGSGESCHICHTE (11. Auflage 1911) 4 Genera mit 12 Spezies beim Menschen unterscheidet. Haeckel beklagte zunächst (p. 754), dass die meisten Anthropologen "dogmatisch" an der sogenannten Arteinheit aller Menschenrassen festhalten und sie zu einer Spezies vereinen: Homo sapiens. Er fährt fort:

Der unbefangene kritische Forscher aber, welcher dieselben genau vergleicht, kann sich der Überzeugung nicht verschließen, daß ihre morphologischen Unterschiede viel bedeutsamer sind als diejenigen, durch welche sich im zoologischen System z.B. die verschiedenen Spezies der Bären, oder der Wölfe, oder der Katzen unterscheiden. Ja sogar die morphologischen Unterschiede zwischen zwei allgemein anerkannten Genera, z.B. Schaf (Ovis) und Ziege (Capra), sind viel unbedeutender als diejenigen zwischen einem Papua und einem Eskimo oder zwischen einem Hottentotten und einem Germanen. Vortreffliche Ausführungen über diese Frage enthält die Anthropologie von Paul Topinard.

Auf der Seite 756 folgt dann das "System der zwölf Menschenarten, verteilt auf vier Gattungen":

 

Der große Haeckel, der im deutschsprachigen Gebiet vor allen anderen den 'Kampf um den Entwicklungs-Gedanken' (so der Titel einer seiner vielen Schriften zu diesem Thema, 1905) führte und der Darwinschen Evolutionstheorie zum Durchbruch verhalf, begründet sein System der Menschenarten u.a. damit, "daß unsere fortschreitende Kenntnis der Tierformen stets zu einer immer weitergehenden Spaltung der Gruppen führt. Verwandte Arten, die bei Linné in einer Gattung, bei Cuvier in einer Familie vereinigt waren, bilden jetzt eine umfangreiche Ordnung mit mehreren Familien und vielen Gattungen" (1911, p. 754).

Mit den gebräuchlichen Methoden der Artbestimmung und dem Maßstab des Systematikers gemessen, erscheint der Ansatz Haeckels völlig korrekt. Die Frage ist nur, ob die Methoden und Maßstäbe der Systematik bei der Art und Gattungsbestimmung immer überzeugend sind. Ist die Grundlage falsch, dann sind es auch die Schlussfolgerungen.

Noch 1963 (und in der deutschen Auflage 1967) sieht sich Mayr gezwungen, gegen das Aufstellen verschiedener Spezies beim Menschen zu polemisieren. Dabei wirft er denjenigen, die mehrere Menschenarten unterschieden haben, typologisches Denken vor (was man bei Haeckel z.B. nun wirklich nicht sagen kann) und spielt die Unterschiede zwischen den verschiedenen Menschenrassen herunter, betont aber vernünftigerweise den biologischen Artbegriff (1967, p. 503):

All die verschiedenen Gruppen des rezenten Menschen auf dem Antlitz der Erde gehören zu einer einzigen Art. Sie bilden eine einzige Gesellschaft interkommunizierender Genpools. Es ist ein Faktum: Die verschiedenen Menschenrassen sind weniger unterschiedlich voneinander als die Unterarten vieler polytypischer Tierarten* Trotzdem haben es einige wenige Irregeleitete fertiggebracht, eine typologische Speziesdefinition auf den Menschen anzuwenden, und haben ihn, indem sie solche künstlichen Kriterien wie weiße, gelbe, rote oder schwarze Hautfarbe herangezogen (haben), in fünf oder sechs getrennte Spezies aufgeteilt. Solch eine Klassifikation läßt nicht nur einen erheblichen Teil der Menschheit wie intermediäre und primitive Relikte** unberücksichtigt, sondern steht auch in ausgesprochenem Widerspruch zu dem biologischen Artbegriff (Kap. 2 und 12). Es gibt keine genetischen Isolationsmechanismen, die irgendeine Menschenrasse trennt, und selbst die sozialen Schranken werden unwirksam, wo unterschiedliche Rassen in Kontakt kommen.

(*Vgl. das Zitat von Mayr zu den Paradies-Elstern p. 198 dieser Arbeit. Spätestens beim Thema Geschwisterarten, die man rein morphologisch in vielen Fällen nicht mehr auseinander halten kann, muss auch Mayr zugeben, dass hier die Unterschiede geringer sind als zwischen den Menschenrassen.)

(**Die so klassifizierten Menschen würden sich bei Kenntnis dieser Einstufung sicher dagegen verwahren.)

Verteidiger eines Systems mehrerer Menschenarten könnten im Gegensatz zu Mayr auf zahlreiche Tiergattungen mit jeweils mehreren Arten hinweisen, bei denen die Unterschiede zwischen den Arten oftmals geringer sind als zwischen den verschiedenen Menschenrassen. Bei den oben zitierten Ausführungen Haeckels klingt der Gedanke schon an und - unter vielen anderen Beispielen - ließen sich auch einige Taubengattungen hier wieder zitieren. Wir wollen bei der Behandlung der Artbarrieren und Zwillingsarten auf diese Frage zurückkommen.

Die Frage, ob ein Ansatz wie Haeckel ihn uns vorgeführt hat und der auf die Bildung mehrerer Gattungen und Arten beim Menschen hinausläuft, biologisch vernünftig ist, wird meines Wissens von allen zeitgenössischen Genetikern, Anthropologen, Zoologen, Paläontologen etc. verneint. So stellen z.B. Eldredge und Tattersall 1982, p. 178 fest:

Today we are but a single species, Homo sapiens, and some 4 billion of us have encircled the globe. We are eurytopic: our adaptations are broad and general. Our cultures, diverse as they are, serve to fit us to the physical exigencies of the wide variety of environments in which we live. But we are a single species.

Vogel und Motulsky bejahen den biologischen Artbegriff, wenn sie 1979, p. 462 und 1986, p. 534 schreiben:

All humans who are living at present belong to one species: their matings have fertile offspring.

Dass sämtliche Menschenrassen trotz aller morphologisch-anatomischer Divergenzen und physiologischer Unterschiede zu einer einzigen Art gehören, ist allen Forschern aufgrund der Tatsache, dass alle Menschenrassen fruchtbare Nachkommen miteinander haben können, so völlig klar, dass das kaum mehr einer weiteren Dokumentation bedarf. Stengel betont 1980, p. 300, dass die Art oder Spezies Homo sapiens die größte menschliche Population oder Fortpflanzungsgemeinschaft ist. "Ihr Kennzeichen ist unter anderem ein gemeinsamer Genbestand oder Genpool, der uns alle, gleich welcher Volks- oder Rassenzugehörigkeit, welcher Nationalität oder welcher Religion, miteinander verbindet. Isolationsfaktoren sehr unterschiedlicher Art haben dazu beigetragen, dass sich kleinere und größere lokale Populationen bzw. Rassen gebildet haben und auch erhalten konnten, die nur durch einen mehr oder weniger starken Genfluß untereinander verknüpft sind und die Art als eine große Mendelpopulation ausweisen."

Es ließen sich seitenweise nur alle zur Verfügung stehenden Autoritäten der Gegenwart zu dieser Frage zitieren. Es gibt nur eine Antwort: Alle Rassen, Varianten, Formen und Gruppen des Menschen gehören zu einer einzigen Art: Homo sapiens.

Schlussfolgerung: Aufgrund dieser Tatsachen dürfen wir Darwin "auf den Kopf stellen": Sowenig die Tauben-, Enten- und Hundezüchtung etc. mit all ihrer Formenvielfalt zur Bildung neuer Arten geführt hat, - genau sowenig handelt es sich bei vergleichbaren Differenzen in der Natur um echte Arten. Bei der Klassifizierung des Homo sapiens hat sich diese Erkenntnis inzwischen allgemein durchgesetzt - für die meisten anderen Lebensformen noch nicht.


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