EINLEITUNG
Taxonomy is very much a matter of personal opinion.
H. K. Airy Shaw
Der Ursprung der Arten steht in den letzten Jahren wieder verstärkt im Brennpunkt des Interesses. Zwischen Gradualismus und Punktualismus, Neutraler Theorie, Neolamarckismus und Kreationismus (um nur einige Richtungen zu nennen) bestehen tiefgreifende Unterschiede. Dem aufmerksamen Beobachter ist dabei nicht entgangen, dass bei Disputen und Diskussionen der konträren Auffassungen der Artbegriff des öfteren ganz unterschiedlich verstanden und angewandt wird. Klassische Systematiker arbeiten mit einem anderen Artbegriff als die Vertreter der Synthetischen Evolutionstheorie, manche Genetiker wiederum mit einem anderen Artbegriff als die beiden erstgenannten und viele Vertreter der Schöpfungslehre. Von all diesen unterscheiden sich neuere Artbegriffsdefinitionen in der Paläontologie, und darüber hinaus werden selbst innerhalb der verschiedenen Gruppen unterschiedliche Artbegriffe gebraucht.
Kein Wunder also, dass ein Teil der Diskussionen auf Missverständnisse zum Artbegriff zurückzuführen ist. Hier Klärung zu verschaffen, ist ein Anliegen der vorliegenden Arbeit. Ein weiteres Anliegen ist die Frage, ob nicht allein nach biologisch-logischen Kriterien eine Wertung der verschiedenen Artbegriffe möglich ist und ein objektiver Artbegriff aufgebaut werden kann. Der Leser urteile im gründlichen Studium dieser Arbeit selbst, ob ich dem Ziel nicht ein gehöriges Stück näher gekommen bin oder es sogar in weiten Bereichen schon erreicht habe.
Das Unterfangen jedoch, zugunsten eines einzigen Artbegriffs alle anderen kurzerhand abzuschaffen (wie das z.B. von Ax 1984 und Willmann 1985 vorgeschlagen worden ist) halte ich für unangemessen (siehe auch Mishler und Donoghue 1982). Man kann historisch gewachsene Begriffe, die die Arbeitsgrundlage zeitgenössischer biologischer Schulen bilden, nicht ohne weiteres ad acta legen. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge erschiene es mir bereits ein großer Gewinn, wenn jede dieser Schulen sich der Ebene bewusst wäre, auf der sie arbeitet und die Möglichkeiten und Grenzen ihres Artbegriffs kennen würde. Ist dieser erste große Schritt erst einmal getan, dann wird er auch ganz zwanglos dazu führen, dass in konkreten biologischen Situationen weitere Möglichkeiten im Sinne anderer Artbegriffe erwogen werden und es könnte sich schließlich der Artbegriff mit der besten biologischen Basis zunehmender Beliebtheit erfreuen.
Das soll keineswegs heißen, dass man nicht dezidiert die Schwächen der verschiedenen Artbegriffe analysieren und sich nicht für den mit der besten biologischen Basis mit allen rationalen Argumenten einsetzen sollte. Es heißt nur, die verschiedenen Ebenen zu erkennen, auf denen mit den verschiedenen Artbegriffen gearbeitet wird und auch ihre Stärken zu analysieren.
Basis dieser Arbeit sind 10 Jahre Forschungsarbeit als Mutationsgenetiker und über 20 Jahre Literaturstudium zum Thema Ursprung der Arten. Allein in den letzten 9 Jahren habe ich etwa 2000 Literaturzitate (davon rund 90 Prozent Primärliteratur) gesammelt, von denen hier über 1000 verarbeitet sind.
Gerne wäre ich noch auf zahlreiche Fragen der allgemeinen Evolutionstheorie eingegangen, wozu ich "den Rest" meiner Quellensammlung einsetzen könnte, - aber das würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit weit überschreiten. Ich kann jedoch den an weiteren Fragen interessierten Lesern die Arbeit von Henning Kahle EVOLUTION - IRRWEG MODERNER NATURWISSENSCHAFT? zur Ergänzung der vorliegenden Ausführungen empfehlen. Das Buch ist in der 3. Auflage 1984 [4. Auflage 1999] erschienen. .
Für Anfänger sollte man das zur Zeit wohl beste populärwissenschaftliche Buch zum Thema DAS LEBEN - WIE IST ES ENTSTANDEN? DURCH EVOLUTION ODER DURCH SCHÖPFUNG (1985) (Siehe p. 282 Mitte und Fußnote) erwähnen und für Fortgeschrittene die ENTSTEHUNG UND GESCHICHTE DER LEBEWESEN von R. Junker und S. Scherer (3. Aufl. 1992) [5. Auflage 2001 unter dem Titel EVOLUTION - EIN KRITISCHES LEHRBUCH]. Ich behandle hier Evolutions- und Schöpfungsfragen vor allem für Biologen und Spezialisten auf dem Gebiet.
Zu den Zitaten:
Vielleicht ist dem einen oder anderen Leser die Methode des direkten Zitats etwas ungewohnt. Ich bevorzuge jedoch das direkte Zitat aus folgenden Gründen:
Bei Fachkollegen stoße ich immer wieder auf die Meinung, dass heutzutage ein Autor allein ein solches Thema gar nicht mehr bewältigen könne. Dieses Misstrauen kann durch direkte Zitate insofern abgebaut werden, als nicht ich das beschreibe, was eine Vielzahl von Autoren zu den unterschiedlichen und weit verzweigten Themen erforscht hat, sondern die Autoren selbst (es wird fast durchweg die Weltspitze der Forschung zitiert!). Außerdem bleiben dadurch die Feinheiten der ursprünglichen Aussagen erhalten.
Was beweisen Zitate? In manchen Fällen dokumentieren sie nur die Auffassung des zitierten Autors zu einem bestimmten Thema. Soweit es sich nur um generelle theoretische Aussagen handelt, kann die Auffassung selbstverständlich falsch sein (vgl. z.B. pp. 321, 438-440). Anders verhält es sich jedoch bei der Dokumentation naturwissenschaftlich fassbarer und zumindest im Prinzip jederzeit reproduzierbarer Beobachtungen und Tatsachen. Zwar kann es auch hier ab und zu vorkommen, dass ein Autor nicht gründlich genug geforscht hat. Werden aber bestimmte klar abgrenzbare Beobachtungen und Gesetzmäßigkeiten unabhängig von mehreren Forschern und Arbeitsgruppen übereinstimmend festgestellt und beschrieben, dann kann man in der überwältigenden Mehrheit der Fälle von diesen Ergebnissen als feste Basis für weitere Überlegungen ausgehen. Ich dokumentiere deshalb verschiedene Beobachtungen und Gesetzmäßigkeiten immer wieder aus der Feder unabhängig voneinander forschender Arbeitsgruppen und gebe zusätzlich häufig noch weitere Literaturhinweise. Solche Zitate haben natürlich eine ganz andere Beweiskraft als noch so starke generelle Behauptungen, die ohne naturwissenschaftliche Absicherung nur den Glauben eines Forschers zum Ausdruck bringen.
Einen Höhepunkt überzeugender Aussagen bilden genaue Beschreibungen von Forschungsergebnissen, die im Gegensatz zu den theoretischen Vorstellungen und Erwartungen der Autoren stehen oder gestanden haben. Ein Musterbeispiel findet der Leser auf den Seiten 314-320. Hier zitiere ich 19 Paläontologen zu einem für die Frage nach dem Artbegriff und dem Ursprung der Arten fundamentalen Punkt, der Diskontinuität der paläontologischen Befunde zum Ursprung höherer systematischer Kategorien im Gegensatz zu der innerhalb von Arten, Gattungen und Familien recht stattlichen Anzahl morphologischer Übergangsserien. Diese Aussagen sind besonders deswegen so beachtlich, weil ein großer Teil dieser Paläontologen damit keineswegs etwa einen diskontinuierlichen Ursprung der Arten postuliert. Simpson wollte als Neodarwinist mit seinen Aussagen selbstverständlich in keiner Weise die Schöpfungslehre unterstützen, und als Befürworter der Idee der kontinuierlichen Evolution interpretiert er dieses auch von ihm selbst immer wieder festgestellte Phänomen völlig anders als Kuhn und andere Paläontologen, die eine diskontinuierliche Entstehung der Typen und Subtypen vertreten. Hier liegt der entscheidende Punkt: Über das Phänomen der Diskontinuität machen alle mit dieser Frage befassten Paläontologen ganz unabhängig von ihren unterschiedlichen Vorstellungen zum Ursprung der Lebensformen die erwähnte grundsätzlich gleichartige Aussage. Das ist die Tatsachenbeschreibung von der wir, ohne der Interpretation eines Autors weiter zu folgen, als feste Basis für weitere Überlegungen ausgehen können. Diesen Punkt möchte ich besonders hervorheben: Tatsachenbeschreibung und neodarwinistische Interpretation z.B. können zwei völlig verschiedene Dinge sein. Ein Autor kann mit einem reichen Erfahrungsschatz auf seinem Arbeitsgebiet und der wissenschaftlich korrekten Beschreibung des empirischen Materials einen Sachverhalt treffend festhalten und dennoch aufgrund seiner Voraussetzungen, Wünsche und Ziele völlig falsch interpretieren. Obwohl ich mich aus dieser Sicht beim biologischen Teil der Dokumentation auf Tatsachenfeststellungen hätte beschränken können, habe ich auch in diesem Teil der Arbeit immer wieder auf die Interpretationen der Autoren Bezug genommen und die Fragwürdigkeit bzw. Stärken vieler Deutungen diskutiert (vgl. pp. 153, 168, 294, 321). Bei der Besprechung vieler zum Neodarwinismus kritisch eingestellter Arbeiten wird stereotyp der Vorwurf erhoben, die Autoren würden Zitate aus dem Zusammenhang reißen. Das wäre jedoch ein Missverständnis meiner Arbeitsweise bzw. ein wenig einfallsreicher Einwurf gegen die hier aufgeführte große Zahl von Tatsachen und Argumentationsketten, um die es in Wirklichkeit geht.
Zur Primär- und Sekundärliteratur: Der Leser findet hier einen großen Schatz zitierter Primärliteratur, so dass die Arbeit für Studenten und andere Interessenten zugleich als Einführung in diese Literaturgattung gelten kann. Zur Dokumentation der Auffassungen verschiedener Autoren und Lehrbuchmeinungen war es jedoch auch notwendig, Sekundärliteratur zu zitieren und zu diskutieren. Bücher mit einer Auflage von über 706.000 Exemplaren wie der dtv-Atlas der Biologie (dazu noch mit Übersetzungen in mehrere Sprachen) üben einen starken Einfluss auf das Verständnis biologischer Grundfragen aus und können daher nicht übergangen werden.
Naturwissenschaftliche Prinzipien und Details: Zunächst sei hervorgehoben, dass ich das Prinzip einer Aussage häufig mit Kursivschrift oder Unterstreichungen hervorgehoben habe. Falls nicht anders vermerkt, sind alle so gekennzeichneten Punkte von mir hervorgehoben worden. Zum Verständnis eines Prinzips wie dem häufig festgestellten Strukturabbau bei Resistenzerscheinungen braucht der Leser sicher keine Detailkenntnisse zur Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyl-Transferase etc. mitzubringen, d.h., dass der Leser sich nicht unbedingt mit allen Details herumschlagen muss, um die Grundlinien dieser Arbeit zu verstehen. Die Aufführung der Details ist jedoch zur Absicherung der Prinzipien unbedingt notwendig. Wer z.B. aus neodarwinistischer Sicht Schwierigkeiten mit den Prinzipien hat oder sich zumindest naturwissenschaftlich abgesicherte Aussagen für sein Verständnis der Ursprungsfrage wünscht, kann sich unmöglich mit allgemeinen Versicherungen zu den entscheidenden Punkten zufrieden geben.
Die naturwissenschaftliche Beweisführung lebt von den Details wie ein Telefonbuch von seinen Nummern. Mit der allgemeinen Behauptung, dass es in einer Stadt genug Anschlüsse gibt, kann die Post niemanden zufrieden stellen, der wissen möchte, ob es einen bestimmten Anschluss wirklich gibt und der diesen Anschluss auch benutzen möchte. Wer in den Naturwissenschaften genau über einen Anschluss Auskunft haben möchte, muss sich dann allerdings auch mit den Details beschäftigen. Auch eine im Gegensatz zu den pp. 438-440 zitierten Beispielen sinnvolle Kritik der vorliegenden Arbeit wird auf diese Details eingehen, anstatt allgemein kräftige, aber naturwissenschaftlich inhaltslose Behauptungen vorzutragen.
Ich lege nun die Arbeit in die Hand des Lesers, um ihm eine Fülle von Tatsachen und Erkenntnissen zu vermitteln und um selbst wieder Anregungen zu einem vertieften Verständnis verschiedener Fragen aus dem Leserkreis zu erhalten.
Neuere Arbeiten:
S. Atran (und die Beiträge von 15 weiteren Autoren) in dem Sammelband (1987): Histoire du concept d`espèce dans les sciences de la vie. Paris
J. Sapp (1987): Beyond the gene. Cytoplasmic inheritance and the struggle for authority in Genetics. New York
Q. Rieppel (1989): Unterwegs zum Anfang. München
D. Otte und J. A. Endler (1989): Speciation and its consequences. Sunderland, Mass.
G. M. Malacinski (Ed.) (1990): Cytoplasmic organization systems. New York
M. Ereshefsky (Ed.) (1992): The units of evolution. Cambridge Mass. und London
ANMERKUNG ZUR KORRIGIERTEN AUFLAGE VON 1993 besonders zu den Seiten 231/232 (Lamprechts "Progene")
Lamprechts Progenkonzept erinnert am ehesten noch an Promotersequenzen und Transkriptionsfaktoren: Der speziell für das Eiplasma bereitgestelle Teil an Transkriptionsfaktoren zur Genexpression in relativ frühen Stadien der Ontogenese könnte sowohl Ohnos (vgl. pp. 223/24) als auch Lamprechts Befunde (zumindest zu einem wesentlichen Teil) erklären. Da die männlichen Gameten keine exprimierten Transkriptionsfaktoren liefern, können die von der Mutter abweichenden ("interspezifischen") Gene, speziell deren Promotoren, von den maternellen Transkriptionsfaktoren nicht "erkannt" und die paternellen Gene entsprechend nicht exprimiert werden. Bleibt diese Dysfunktion innerhalb der funktionellen Toleranzgrenzen einer F1, findet man mehr oder weniger intermediäre Hybriden, die jedoch auch nicht in der Lage sind, zur Expression der artspezifischen Gene des Vaters für die nächste Generation Transkriptionsfaktoren bereitzustellen. Folge: die artspezifischen Gene des Vaters können nie im maternellen Plasma exprimiert werden. Außerhalb der funktionellen Toleranzgrenzen der F1 finden wir hingegen Ohnos Befunde von p. 224.
Die primären (erschaffenen) Arten unterscheiden sich von den sekundären u.a. durch artspezifische Gene samt Promotoren und dazu gehörigen Transkriptionsfaktoren, die vom maternellen Genom- und Plasmonsystem weder identifiziert noch exprimiert werden können.